Bevor die Kamera das Spielfeld zeigt, auf dem die Mannschaften zum Finale einlaufen, zeigt sie den Eiffelturm; vor dem Skiläufer am Start den Hahnenkamm. Darin verbirgt sich eine alte Logik. Man muß etwas selbst hören, oder mit eigenen Augen sehen, um es zu glauben. Dieses vernünftige Prinzip hat der Menschheit Jahrtausende lang gute Dienste geleistet. Durch weltweite Datenübertragung in Echtzeit ist es stark angeschlagen. Abfahrtspisten sehen überall ziemlich ähnlich aus. Was garantiert mir, daß die Bilder wirklich aus Kitzbühel kommen? Der charakteristische Berg.
So sind Ansichtskarten, Urlaubsvideos und originale Gamsbärte Vergewisserungen, die im Meer der Information Inseln der Echtheit herstellen sollen. Von der Straße her tönt die Sirene; ich trete ans Fenster und sehe die Rettung vorbeifahren; die Reifen quietschen und eine Passantin springt zur Seite. Ähnliches ist auch im Fernsehen und auf dem Monitor zu beobachten. Wir sind Zeugen der Bergungsarbeiten nach einer Massenkarambolage und Spielfiguren in virtuellen Verfolgungsjagden. Das ist nicht bloß Reizüberflutung; die Reize kommen aus entlegenen Gebieten und sind täuschend echt.
Täuschend? Das ist gerade das Problem. Eigentlich ist es keine Täuschung, wenn auf dem Bildschirm die Partnerin in der Videokonferenz sich eine Zigarette anzündet, die nicht zu riechen ist. Und soll ein Computerbenutzer, der über sein WWW-Interface eine Pflanze betreut, die er nur vermittels der Webcam wahrnehmen kann, nicht Gärtner heißen dürfen? Früher einmal waren die Dinge des täglichen Gebrauches in ihrem Verhalten recht einfach abschätzbar. Ein Bleistift ändert sein Gewicht nur sehr langsam, er kann abbrechen und verlegt werden, aber sich nicht in Luft auflösen. Der Zeiger einer Maus nimmt alle erdenklichen Gestalten an. Mit seiner Hilfe kann eine neugierige Person Architekturen erkunden, die auf einem anderen Kontinent generiert werden. Sie sind mit Fingerspitzen zu greifen und bei Bedarf auch zu verändern. Das "Global Positioning System" gibt mit Hilfe von Satelitten im Weltraum über den genauen Standort im Wienerwald Bescheid. Nah und fern sind kaum noch auseinanderzuhalten.
Natürlich erzeugt das einige Konfusion, darum müssen die TV-Reporter ja womöglich vom Originalschauplatz berichten, obwohl im Studio verfügbare Nachrichten und analytische Ressourcen erheblich wirklichkeitsnähere Ergebnisse brächten. Das Zeitalter der globalisierten Massenkommunikation wird daran gemessen werden, wie es diese Komplikationen aussortiert. Zur Erinnerung, zum Vergleich und zur Orientierung ist ein Blick in die Vergangenheit nützlich. Wir sind ja nicht die ersten Menschen, die auf den Unterschied zwischen unmittelbarer Umgebung und für die Wahrnehmung unzugänglicher Landstriche stoßen. Ohne Bilder aus der Ferne und Erinnerung gibt es keine Zivilisation.
Eine Möglichkeit, die Einzigartigkeit des Medienzeitalters zu betonen, ist der Hinweis darauf, daß seine Bilder nicht ein für allemal fixiert sind, sondern sich permanent bewegen, interaktiven Eingriffen folgen und hochdisponibel sind. Es gibt aber auch die umgekehrte Perspektive. Alle diese Charakteristika sind nicht erst heute erfunden worden. Neu ist bloß ihre technische Realisierung. Wären solche Bewegungen nicht denkbar, so ließen sich auch keine Maschinen konstruieren, die sie ausführen. Das Weltall war bereits bevölkert, bevor Raketen es "eroberten". Zum Beispiel in der griechischen Mythologie und in barocken Ölgemälden.
Berüchtigt sind die amourösen Abenteuer, auf die sich Jupiter, der oberste der Götter, auf Grund seiner überlegenen Weitsicht eingelassen hat. So erspähte er vom Olymp aus Io, die schöne Tochter des Inachus, und forderte sie (fernmündlich) auf, im Schatten eines Haines für ihn bereit zu sein. Die Frau wollte sich das nicht gefallen lassen und floh; der Gott hüllt das Land in Nebel und fängt seine Beute. Er rechnet nicht mit der Luftraumüberwachung durch seine Gattin. Hera bemerkt erstaunt, daß am hellichten Tag ein Flugsektor ins Dunkel gehüllt ist und schöpft Verdacht. Sie befiehlt dem Nebel zu weichen und trifft -- auf eine Kuh. Jupiter hatte seine Geliebte vorsorglich in ein harmloses Tier verwandelt. Ovids "Metamorphosen" handeln von einer Fülle solcher Transfigurationen im kosmischen Verkehr zwischen Menschen und Göttern, die über menschenähnliche, allerdings telekratische Fähigkeiten verfügen.
Die großen Deckenfresken in Palästen des 17. Jahrhunderts zelebrieren die Versammlung der Erdteile am Firmament, erleuchtet und besiedelt vom Glanz eines Fürsten und seiner Entourage. In diesen Visionen herrscht rege Telekommunikation. Nicht zufällig haben einige Medientheoretiker auf die Engelwelt zurückgegriffen, um die modernen "Botendienste" zu beschreiben. Das Verschwinden dieser Prachtbilder fällt mit dem Beginn jener Entwicklung zusammen, welche die Dampfmaschine, die Eisenbahn, den Telegrafen und schließlich die gegenwärtige Informationstechnologie hervorbrachte. Aus dieser Position wird die Phantasie vielleicht mit einem mitleidigen Lächeln quittiert. Aber das muß nicht sein.
Die Telepräsenz findet genauso im Bewußtsein, wie in der Maschine statt. Der Kunde muß einschätzen können, ob das Faxgerät eine Testseite oder eine Botschaft druckt. Dann ist es auch gestattet, die Einbildungskraft zum Motor für Fotoapparate und Computer zu machen. Walter Stach, ein Wiener Künstler, hat die Geschichte von Jupiter und Io aus der barocken Fassung des Malers Corregio in den Bereich übertragen, der von der NASA erschlossen wird. Die erdnahen Gestirne sind nach griechischen Göttinnen und Göttern benannt; der Planet Jupiter besitzt einen Mond, dem Galileo Galilei den Namen Io verliehen hat. Eine Foto-Inszenierung Stachs zeigt die Schwestern im Weltall. Das Bild verbindet eine griechische Nymphe, die Figur aus dem kunstgeschichtlichen Museum und Ergebnisse der Raumfahrt in dieselbe Gegenwart.
Nachrichtentechnisch steckt nichts dahinter. Die Phantasie läßt sich durch die Karriere eines Namens in der europäischen Kunst- und Wissenschaftsgeschichte inspirieren. Mit Telekommunikation nach heutigem Verständnis hat das wenig zu tun. Nicht so offensichtlich, doch ebenso wichtig, ist das Gegenargument. Es steckt auch nichts hinter den elektro-magnetischen Impulsen, aus denen sich der Datenverkehr aufbaut. Sie müssen in sinnvollen Zusammenhängen zirkulieren. Der Wind konstruiert sich das Windrad nicht. Die beiden Parteien sind aufeinander angewiesen. Was nützt mir die Telekonferenz, wenn ich nichts zu sagen habe? Die überirdischen Kommunikationsabläufe, auf deren Auswirkungen man überall treffen kann, sind etwas anderes, als schöne Märchen. Sie bilden einen Überschuß an Vorstellungsvermögen, ohne den die Übermittlung von Information auf der Strecke bleibt. Plattgewalzt und abgestorben.