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Provokation

Der Übungssatz dient zur Stützung einer anspruchsvollen hermeneutischen These. Sie besagt, daß es ohne Sprachpraxis, also ohne das vorausgesetzte Einvernehmen einer real existierenden Sozietät, nichts zu verstehen gibt. Der einzige Weg, mit der Lautfolge ,,Trauergottesdienst`` Sinn zu verbinden, liegt darin, sie für Sprecherinnen (m/w) auf der Basis ihrer Sprachkompetenz vernünftig abschätzbar zu machen. Um die allzu aktuellen Konnotationen auszublenden, hier ein modifiziertes Beispiel, das eher an die ,,radical translation`` erinnert. Was heißt die Buchstabenkette ,,PCMCIA``? Natürlich ist es pädagogisch absurd, zu antworten: ,, ,PCMCIA` bedeutet PCMCIA``. Aber in dieser Zumutung steckt eine unentbehrliche Einsicht. Alles, was wir vorbringen können, um einer Person, die nicht mit einem solchen Acronym vertraut ist, die Sache zu erklären, kommt auf irgendeine Weise darauf hinaus, ihr nahezubringen, wie wir den Terminus gebrauchen. Der Witz des Satzes liegt darin, daß das erste Vorkommen von ,,PCMCIA`` quasi leer im Raum steht, während das zweite Verständnis einfordert.

Plausibler ist eine Erläuterung der Form ,, ,PCMCIA` steht für Personal Computer Memory Card Interface Association.`` Sie erweist den Ausdruck als Abkürzung für einen Bestandteil der Computerperipherie. Das klingt schon besser, aber wir sind, genau betrachtet, kaum weiter als mit der vorhergehenden Formel. Wer sagt uns denn, daß ,,PCMCIA`` nicht für ,,People Can't Memorize Computer Industry Acronyms`` steht? Abstrakt gesprochen läßt sich alles Mögliche zur Deutung vorbringen. ,, ,PCMCIA` heißt PCMCIA`` ist bloß besonders ungeschickt. Die Funktionsweise des zweiten Vorkommens gleicht der Funktion der anderen Paraphrasen. Bedeutung wird mit Hilfe eines passenden Kontexts festgelegt. Um dem Beispiel seine paradoxen Flair zu nehmen, muß man sich nur vorstellen, daß westeuropäischen Computerexpertinnen eine entsprechende kyrillische Inschrift erklärt wird.

Mit dieser Wendung scheinen wir uns allerdings weit vom Dogmatismus entfernt zu haben, dessen teilweise Rehabilitation angekündigt war. Die Bedeutung des Acronyms ändert sich je nach den Umständen. Damit wird der Wortgläubigkeit gerade der Boden entzogen. Relativistischer geht es doch gar nicht! Ja, und das erzwingt gerade den Umschlag zugunsten einer Art von Bedeutungsintegralismus. Zwei Punkte sind festzuhalten. Erstens kommt keine Deutung zustand, wenn Sprecherinnen Buchstaben beliebig kommentieren. Interpretationen sind Stellungnahmen. UNd zweitens trügt der Anschein, als könnten es beliebige Stellungnahmen sein. Diesen Effekt sollte die zweite, alternative Auflösung der Buchstabenkette im eben erwähnten Beispiel erzielen. Aber es handelt sich nicht um eine Relativierung im landläufigen Sinn. Entweder es herrscht echte Unklarheit über die Bedeutung, dann sind die Konstruktionen gleichberechtigt und konkurrieren um die empirische Adäquatheit. Oder die erste Deutung ist etabliert, dann ist die zweite offenbar von ihr abhängig und keine primäre Option. Voraussetzungslose Interpretation beruht auf zwei Pfeilern, einerseits der Konkurrenz ernst gemeinter Deutungsansätze, andererseits der Sprachkompetenz, die hinter ihnen steht. Dann gibt es noch den Variantenreichtum abgeleiteter Hypothesen. Nirgends ist Platz für eine Sinnzuschreibung, die, sollte sie gelingen, einfach dadurch relativierbar ist, daß es andere gibt. Die Investition kann fehl am Platz sein; der Rückschluß, dann wäre es keine Investition gewesen, ist nicht erlaubt. Daraus ergibt sich, daß Irrtum oder Kurzsichtigkeit im Umgang mit verstehbaren Äußerungen die intentio recta in Bedeutungsfragen nicht überflüssig machen können. Um es sicherheitshalber nochmal zu unterstreichen: Die These sagt nicht, es gäbe unerschütterliche Bedeutungen. Sie sagt, daß es ohne die unangetastete Wirksamkeit zentraler Bestandteile unseres Sprachgebrauches überhaupt nicht zu Interpretationen kommen kann. Sie erkennt dem Erzbischof nicht das Recht zu, sein Verständnis von ,,Trauergottesdienst`` außer Streit zu stellen, verlangt allerdings, daß dieser Streit, wenn nötig, als letzte Instanz anerkannt wird. Als Auseinandersetzung um ein Wort, in der es um alles gehen kann.


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h.h.
2000-12-29