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Fehlgriffe

Ich habe vor, mich in eine etwas unbequeme Position zu manövrieren, nämlich darzulegen, daß Felix Kaufmanns Kritik an Cantor aus drei Gründen ihr Ziel verfehlt und dennoch ein bedenkenswertes Unternehmen bleibt. Kaufmann sind keine Fehler unterlaufen, er ist mit Cantor nicht in mathematische Konkurrenz getreten. Die Unzulänglichkeit liegt in den philosophischen Voraussetzungen. Als erstes fällt die phänomenologische Fehleinschätzung auf. Von Husserl kommt der Gestus, das Untersuchungsfeld in unmittelbar einleuchtende Intuitionen und sekundär darüber gelagerte Begriffskonstruktionen zu trennen.

Kaufmanns Strategie, das zwischen ihm und Cantor verhandelte Thema philosophisch zu exponieren, operiert damit, einen Befund außer Streit zu stellen:

Um hier klar zu sehen, müssen wir auf das peinlichste zwischen dem vorliegenden Sachverhalt, welcher schlicht wiederzugeben ist, und irgendwelchen Interpretationen dieses Sachverhaltes unterscheiden.gif
Dazu wird eigens betont, daß es sich nicht um rivalisierende Interpretationen handelt, sondern um ,,die schlichte Beschreibung der mathematischen Beziehungen selbst.gif,, Cantors Fehler liegt nach diesem Ansatz darin, daß er aus einem legitimen technischen Resultat ungerechtfertigte metaphysische Schlüsse gezogen hat. ,,Das Diagonalverfahren garantiert, daß zu jeder abzählbaren Folge reeller Zahlen eine in dieser Folge nicht enthaltene reelle Zahl gefunden werden kann.``gif Dieser Trick zur Überbietung beliebiger Aufzählungen reeller Zahlen gibt uns aber nicht das Recht, von ihrer Gesamtheit so zu reden, als läge sie jenseits des Bereiches der Abzählbarkeit, sozusagen in höheren Sphären. Das aktual Unendliche, das mit einer solchen Ausdrucksweise unbesehen in der Mathematik auftaucht, stammt nach Kaufmann aus einem illegitimen philosophischen Überbau, nämlich der irrigen
Meinung, daß sämtliche unendliche Dezimalbrüche zwischen 0 und 1 ,vorliegen`, und daß es nur gelte, dieses vorliegende ,Material` mathematischer Behandlung zu unterwerfen.gif
Phänomenologische Präzision wird eingesetzt, um zu zeigen, daß eine solche Deutung dem faktischen Beweisverfahren künstlich nachgereicht wird. Ein praktizierender Mathematiker kann der christlichen Philosophie nicht unvermittelt zur Hilfe kommen.

Doch auch das Gegenteil gilt: Auf Phänomenologie gegründet lassen sich überabzählbare Mengen nicht verbieten. Wodurch ist denn verbürgt, was sich am Sachverhalt schlicht zeigt? Wodurch ist ohne Zweifel zu erkennen, was in ihn hineingelegt wird? Um etwas als Beweis zu sehen, ist schon ein ziemlich ausgebildetes Vorverständnis nötig. Kaufmann schreibt es auf das Konto des schlichten Hinsehens. Doch das Problem reicht noch tiefer: auch Zahlen, Mengen und mathematische Aussagen erscheinen nicht im interpretationsfreien Raum; sie konstituieren sich nur unter bestimmten begrifflichen Voraussetzungen. Woher nimmt Kaufmann dann das Recht zu seiner scharfen Trennung? Appelle an die schlichte Einsicht sind zumeist revisionistisch. Sie berufen sich auf einen Konsens, dessen konventionellen, veränderbaren Charakter sie verschweigen, um begrifflichen Neuerungen ihre angebliche Unnatürlichkeit vorzuhalten. Doch selbst (und gerade) was am Einfachsten erscheint, hat seine Entstehungsgeschichte.

Damit soll nicht gesagt sein, daß die Trennung von Beweisverfahren und ambitioniertem philosophischem Kommentar überflüssig wäre. Wittgenstein hat in einem Manuskript 1938 ganz ähnlich argumentiert:

Das Gefährliche, Täuschende der Fassung : ,Man kann die reellen Zahlen nicht in eine Reihe ordnen` oder gar ,Die Menge ...ist nicht abzählbar` liegt darin, daß sie das, was eine Begriffsbestimmung, Begriffsbildung ist, als eine Naturtatsache erscheinen lassen.gif
Akzeptiert, aber dann darf auch Kaufmann nicht so tun, als stütze er sich auf eine Art Naturtatsache. Wittgenstein, der oft gegen seinen eigenen Vorsatz verstoßen hat, beendet seine Notizen über Cantor so:
Ich darf also nicht sagen: ,So darf man sich nicht ausdrücken`, oder ,Das ist absurd`, oder ,Das ist uninteressant`, sondern: ,Prüfe diesen Ausdruck in dieser Weise auf seine Berechtigung`.gif
Das führt zur zweiten Unzulänglichkeit in Kaufmanns Unternehmen. Wittgensteins bohrende Fragen verfolgen keinen konsolidierten Plan. Kaufmann dagegen fügt der phänomenologischen Zugangsweise den erkenntnistheoretischen Kontrollanspruch hinzu. Die Sache zeigt sich nicht nur auf eine schlechterdings einsichtige Art und Weise, sie darf auch gar nicht anders betrachtet werden.

Der Affekt gegen ungezügelte Spekulationen ist deutlich. Eine ,,durchgreifende Methodenkritik``gif muß den ,,Ungedanke(n) einer unabhängig von einem Bildungsgesetz ,vorliegenden` unendlichen Totalität``gif ,,in eine korrekte Ausdrucksweise ,übersetzen```gif. Das Kantianische Motiv wird bei vielen Philosophinnen auf Zustimmung stoßen. Die Menge der natürlichen Zahlen ist eine Idealisierung des Zählprozesses und wo wir nicht mehr zählen können, sollten auch unserer Imagination Grenzen gezogen sein. Ist diese Argumentation dazu geeignet, die Auseinandersetzung im Sinne Kaufmanns zu entscheiden? Nur unter der Bedingung, daß Cantor und Kaufmann das selbe Spiel spielen. Aber an dieser Stelle greift die vorhin genannte Asymmetrie der Auseinandersetzung. Kaufmann muß der Mathematik Regeln vorschreiben, Cantor kann sich von seinem Ausflug nach Rom auf seine Beweisidee zurückziehen. Die Argumentationslast liegt beim Philosophen, der ihm ins Handwerk dreinredet.

Die Unbekümmertheit, mit der so etwas im 18. und 19. Jahrhundert möglich war, steht im Umfeld des Wiener Kreises nicht mehr zur Verfügung. Kaufmanns Versuch fällt entsprechend schizophren aus. Einerseits kann (und will) er nicht bestreiten, daß er mit legitimen mathematischen Handgriffen zu tun hat. Andererseits hat er sich zum Ziel gesetzt, eine Weise, darüber zu sprechen, zu unterbinden. Das Diagonalverfahren hat einen legitimen mathematischen Kern, nur sei hinzuzufügen, ,,daß durch diesen Beweis keineswegs die ,Existenz` höherer transfiniter Mächtigkeiten garantiert wird``gif. Kaufmann setzt ,,Existenz`` unter Anführungszeichen und markiert damit selbst den springenden Punkt.

In welchem Sinn ist hier von Existenz die Rede? Sollte es sich um metaphysische Höhenflüge handeln, müßte man Cantor als philosophischen Außenseiter deklarieren. Das wird ihn nur am Rande treffen. Wichtiger ist eine zweite Lesart von ,,Existenz`` im zitierten Satz. Cantor könnte eine solche Ausdrucksweise nämlich innerhalb einer Paraphrase des von ihm vorgelegten Beweises einsetzen und sich der philosophischen Andeutungen enthalten. Dann ließe sich der starke, ontologische Sinn nur mehr mit Mühe einklagen. Die Mathematiker übernähmen die Regie über ihre eigenen Existenzaussagen, Erkenntnistheorie kommt da nicht mehr heran.

Das Dilemma zeichnet sich auch in einer anderen Formulierung Kaufmanns ab. Er spricht davon, daß ,,mit dem Begriff einer Menge von höherer als abzählbarer Mächtigkeit`` nur unter bestimmten Bedingungen ,,sinnvoll operiert werden (könnte)``gif. Aber mit dem besagten Begriff operiert Cantor eben nicht, er präsentiert einen Beweis, der mit Zahlen operiert. Kaufmann dagegen reflektiert über den Begriff. Die beiden Tätigkeiten laufen nebeneinander her. Das wird noch deutlicher, wenn man auf die Metamathematik sieht, in der tatsächlich mit Begriffen operiert wird. Hier beginnt die dritte Problemzone. Kaufmann glaubt, sich gegen Cantor auf das Löwenheim-Skolem-Theorem berufen zu können. Die Pointe dieses Lehrsatzes läßt sich für unsere Zwecke so zusammenfassen: alle in der Sprache der Prädikatenlogik 1. Stufe formulierten Sätze, die von überabzählbaren Mengen gelten, sind auch im abzählbaren Bereich erfüllbar. Das heißt: es gibt in der logischen Standardsprache keine Aussagen, die ausschließlich auf Überabzählbares zutreffen. Ergo können wir dafür - sagt Kaufmann - auch keinen eigenen, unverwechselbaren Sachbereich ausmachen. Es fehlt die Möglichkeit, ihn verlässlich vom Abzählbaren zu unterscheiden.

Ergebnisse fachinterner Diskussionen für philosophische Zwecke in Dienst zu nehmen, ist eine riskante Sache. Lokal sind sie wechselnden Deutungen und Entwicklungen unterworfen, in der Philosophie fungieren sie als externe Autoritätsinstanz. Zur Zeit Kaufmanns war der methodische Status des Löwenheim-Skolem-Satzes noch nicht in Schwebe, insofern ist sein Gedankengang nicht ganz verkehrt. Aber der gegenwärtigen Diskussionlage hält der Verweis nicht stand. Das Theorem beweist tatsächlich, daß Sätzen, die für überabzählbare Mengen gelten sollen, Sachverhalte im Bereich des abzählbar Unendlichen gleichsam unterschoben werden können. Daraus folgt aber nicht, daß das Überabzählbare ,,verschwindet``. Es heißt nur, daß wir für die betreffenden Sätze quasi unerwünschte Interpretationen finden können. Sie sind dann wahr, aber in Abhängigkeit vom Interpretationsbereich, d.h.: ihre Prädikatsaussdrücke haben verschiedenen Sinn, je nachdem, ob sie auf abzählbar oder überabzählbar Unendliches bezogen werden.

Eine intuitive Analogie wäre das folgende Mißverständnis bei Aussagen über finanzielle Transaktionen: Auf eine Runde Monopoly können dieselben Satzformulierungen zutreffen, wie auf eine Konstellation der Frankfurter Börse. Die Wahl der intendierten Modelle einer Sprache verhindert in der Regel nicht, daß dieselbe Sprache unkonventionell zu - unter den veränderten Umständen korrekten - Mitteilungen verwendet wird. Die vermeintliche Hilfe aus der Metamathematik erweist sich als kontraproduktiv. Kaufmann hat zweifellos ein Recht auf philosophische Thesen über das aktual Unendliche. An Cantors Tätigkeit gehen sie jedoch vorbei.


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h.h.
Sam Sep 25 18:44:30 MEST 1999