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Kollaps des Realitätsbegriffs? Antrag um Aufschub *

Herbert Hrachovec

Atomkraft ist wirklich eine Gefahr. Jean Baudrillard traut sich zu widersprechen. Sie ist keine dem Menschen bedrohlich gegenüberstehende Erscheinung. ,,Das Nukleare ist die Apotheose der Simulation. Seine Verwirklichung wäre das Weltende, die Existenz der Welt hängt an der Vorstellung, wir hätten die Bombe und den Reaktorblock im Griff. Tatsächlich aber hat sich ein System des Scheinbaren etabliert, das Sachverhalte nur zur Tarnung seiner überall hin ausgreifenden Machinationen vortäuscht.``gif Die nukleare Energie sprengt Wirklichkeit und Wirklichkeitsbegriff, der Rest ist Eindimensionalität, die so tut, als gäbe es noch Unterschiede zwischen Fakten und Fiktion. Jean Baudrillards Widerrede bezieht sich darauf, daß die gebräuchliche Sprachverwendung nicht dazu taugt, den gegenwärtigen Zustand der Welt zu fassen. Das atomare Inferno fungiert als Drohung, aber es steckt nichts dahinter. Das heißt: wenn sie sich realisiert, hört der ganze Zauber auf. Betroffenheit und Heuchelei verschmelzen: die Angst geht von einem nicht ernst zu nehmenden Gegenüber aus. Es ist zu ernst, um irgendwie genommen zu werden. Worte reichen nicht dorthin. ,,Es ist schon von vornherein als die Eventualität des Realen in einem System von Zeichen ausgeschlossen.``gif

Baudrillards Behauptung ist zweischneidig. Für das Atom als Wirklichkeit ist im vertrauten Kommunikationszusammenhang kein Platz. Dennoch markiert ein Ausgespartes unser Sprechen, gerade jener Faktor, der sich der Sprache entzieht. Im obigen Zitat heißt er verblüffenderweise wieder ,,das Reale``, an anderer Stelle ist es die ,,Hyperrealität``. Durch diese Verschiebung kann ,,das Nukleare`` nicht nur als Apotheose der Simulation, sondern umgekehrt auch als der Inbegriff von Realität bezeichnet werden. Die Modulation führt überraschend in einen anderen Sprachduktus. Slavoj Zizek spricht über Tschernobyl. ,,Gerade die Indifferenz gegenüber ihrer Symbolisierungsweise plaziert die Strahlung in die Dimension des Realen. Egal, was wir über sie sagen, sie breitet sich weiter aus und reduziert uns zu machtlosen Zeugen. Die Wellen sind durch und durch undarstellbar, kein Bild entspricht ihnen. In ihrem Status als wirklich, als der ,harte Kern`, in dessen Umkreis jede Symbolisierung scheitert, werden sie reiner Schein.``gif Angesichts der Atomkraft überschlagen sich die Worte. Sie ist im einen präzisierten Sinn nicht wirklich, im anderen ein Unterpfand des Realen selbst. Die Prägnanz des Realitätsbegriffs scheint unter ihr ziemlich zu leiden. Man könnte einwenden, das Beispiel sei extrem, aber die Schwierigkeit beschränkt sich, wie wir sehen werden, nicht darauf. Die Wirklichkeit als Anhaltspunkt für unterstützungswürdige Aussagen rutscht an entscheidender Stelle weg.

Ich werde der von Baudrillard gezeichneten Tendenz folgen und fragen, wo die Erschütterung des Realitätsprinzips durch die ,,Liquidierung aller Referentiale``gif hinführt. Im gerade bewerkstelligten Kurzschluß direkt zur Gegenposition der übermächtigen Bedeutsamkeit der großen Aussparung. Aber so flott sollte man mit Begriffen nicht umspringen. Das überreizte Klima, in dem zur Zeit von Wirklichkeit und Schein gesprochen wird, schadet ihrer Entwicklung. Zwischen der Philosophie der Simulation und der psychoanalytisch erneuerten Metaphysik des Realen ist eine Portion Skepsis angebracht. Donald Davidson hat einen Umgang mit Realismus vorgeschlagen, der Baudrillard den Wind aus den Segeln nimmt und die vertraute Begriffsverwendung auf einer neuen Basis konsolidiert. Angesichts des wüsten Treibens der ,,Implosion, in der sich alle Energieformen in einem katastrophalen Prozeß auflösen``gif können einige kühle Überlegungen nicht schaden. Erst nach dieser Atempause greife ich das metaphysisch brisante Anliegen wieder auf. Jacques Lacan und Slavoj Zizek behandeln es terminologisch exakt und ohne Ausflug in die Rhetorik des Weltuntergangs. Die US-amerikanische Beschwichtigung schützt zwar vor Apotheosen, verfehlt aber die Aufregung, die Baudrillard so plastisch ausdrückt. Im Rahmen Lacans tritt sie, methodisch reflektiert, neuerlich auf. Der Terminus Realität ist entweder entbehrlich, oder aber für die Rechenschaft über unsere Welterfahrung konstitutiv. Ein Kurzschluß ist schnell produziert, der Aufbau eines Spannungsfeldes dauert länger.




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Fri Aug 9 21:05:11 MET DST 1996