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So übersichtlich, wie ich das Dilemma hier gezeichnet habe, sieht es nur von außen aus. Die Entwicklungsgeschichte der Partei ergänzt es um kompliziertere Facetten. Kurt Piringer macht auf eine Lebenslüge der 2. Republik aufmerksam, die direkt mit den gegenwärtigen politischen "Ausgrenzungen" zu tun hat. Mit strategischem Geschick gelang es den Überlebenden der beiden Bürgerkriegslager, Österreich den Alliierten als Opfer des Faschismus vorzustellen. Das bedeutete einerseits, daß die heimischen Spielarten des Totalitarismus schamhaft verschwiegen wurden, andererseits, daß man Sündenböcke brauchte -- die FPÖ. Piringer spricht von einem "Geschichtsbild voller Löcher" das die liberalen Traditionen der österreichischen Geschichte ausspart und es ist nicht zu leugnen, daß die zwei Großparteien sich ein sehr selektives Bild des Geschichtsverlaufs zurechtgezimmert haben.
Der Konsens stützte den Wiederaufbau und trug dazu bei, den derzeitigen Lebensstandard zu erreichen. Die Kehrseite des Verfahrens wird immer deutlicher. Vom Einvernehmen ausgenommen sind jene Schichten der Bevölkerung, die -- zu Recht oder zu Unrecht -- neuerlich Zukunftsängste entwickeln. Politische Parteien versuchen, möglichst viele Stimmen zu erhalten, das kann ihnen niemand vorwerfen. Die Bedingungen, unter denen ein ansehnlicher Prozentsatz der Österreicherinnen und Österreicher FPÖ wählt, haben zu einem guten Teil die Regierungsparteien geschaffen. In ihren Gedächtnislücken lagert Dynamit. Auch hier kommen besonnene Stimmen zu Wort. Gesittet fordert Piringer ein faires Verfahren.
Man wird endlich die unumstößliche Tatsache respektieren müssen, daß es in allen Parteien Vernünftige und Unvernünftige, Anständige und Unanständige und neben guten Demokraten eben auch Exponenten des Extremismus gegeben hat und auch heute noch gibt. (Piringer, S.802)Doch ein schlimmes Trauma durchkreuzt die symmetrische Verteilung und bewirkt, daß die Parteien alles andere als gleich belastet sind. Es ist noch immer die Hypothek der Vergangenheit. Wie reagiert ein "anständiger Mensch" auf das Faktum des staatlich exekutierten rassistischen Massenmordes?
Was er im Wirtshaus sagt, steht nicht im Jahrbuch. In diesem Punkt begnügen sich die Autoren mit vereinzelten Angriffen auf Überfremdung und Sozialschmarotzer. Die Eigenart des freiheitlichen Umgangs mit der Katastrophe wird im Eröffnungsartikel und -- als Klammer -- fast am Ende des Bandes manifestiert. An Konzentrationslagern ist aktuell, daß die bisher angenommenen Zahlen revisionsbedürftig sind.
Doch kommen aus dem Osten auch andere wesentliche Korrekturen bisher akzeptierter Daten. So liegt die Zahl der im nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau Ermordeten ... nach jüngsten Untersuchungen polnischer Historiker wahrscheinlich zwischen einer Million und 1,5 Millionen Menschen (FAZ v. 18.7.1990) und in Auschwitz ist die Tafel mit der Zahl von vier Millionen Opfern entfernt worden. Nun ändert auch die neue Zahl nichts an der Furchtbarkeit und Verwerflichkeit des Massenmordes, doch mag sie ein Hinweis darauf sein, daß auch hier noch vieles klärungsbedürftig ist. (Topitsch, S.18)Alfred Schickel zitiert dieselbe Meldung (S.767). Auch er nimmt sie zum Anlaß, kursorisch auf das Faktum hinzuweisen und mit Nachdruck eine ausgeglichene Interpretation zu fordern.
Daß die Herrschaft des Nationalsozialismus Millionen Menschen das Leben kostete, ist bekannt; ebenso geläufig ist, daß man die Opfer teilweise mit Gas ermordert hat. Besonders der Versuch, das europäische Judentum auszulöschen, hat vielerorts die NS-Verbrechen als einmalig in ihrer Art erscheinen lassen und zugleich alle anderen Unmenschlichkeiten der Weltgeschichte in ein milderes Licht getaucht.Man soll nicht sagen, daß die beiden unbelehrbar sind, sie sprechen auch nicht von der "Auschwitz-Lüge". Aber sie wollen das Geschehene nicht übertrieben sehen. Das klingt vernünftig.
Zu den Spätfolgen der Nazi-Verbrechen gehört unter anderem, daß sie selbst der Erschütterung das rechte Maß nehmen. So wenig man Millionen Menschen vernichten kann, so wenig kann man sich darüber aufregen. Nun, da es doch geschah, ist das Fassungsvermögen aus der Balance. Wie könnte es anders sein? Im Prinzip verständlich sind die Warnungen davor, den Bogen zu überspannen und Generationen von Deutschen und Österreichern als moralische Geiseln zu nehmen. Trauer kann nicht verordnet werden, schlimmer noch: Staatstrauer provoziert die Tabuverletzung. Die Aufklärung muß zur Kenntnis nehmen, daß der Mechanismus der libidinösen Übertretung des gesellschaftlichen Regelkanons linken wie rechten Randgruppen zur Verfügung steht. An Topitsch und Schickel ist abzulesen, wie das Tabu gewahrt und indirekt umgangen wird. Die Strategie ist keineswegs auf Volksgenossen beschränkt. Jesus Christus hat sich auch schon einiges gefallen lassen müssen. Ihn nehmen mehrere Beiträge des FPÖ-Jahrbuchs in Schutz. Für moralische Skrupel über die jüngere Vergangenheit ist kein Platz vorhanden.
Es gibt irreparable Löcher. Wenn alles, was Du mir zur "Endlösung" zu sagen hast, darauf hinausläuft, daß es ein schreckliches Verbrechen war, das überschätzt wird, hört sich der Gleichmut auf. Alfred Schickel fordert "sich in den Dienst der unvoreingenommenen Vergangenheitserhellung (zu) stellen und etwas unabänderlich Geschehenes nicht nachträglich 'bewältigen' zu wollen." (Schickel, S.778) Was soll die "Unvoreingenommenheit" bewirken? Mehr Sympathie mit den Massenmördern, weil sich der Opferpegel gesenkt hat? In einer traurigen Verschubaktion holen sich die Herren ihr gutes Gewissen vom Zählerstand der Vernichtungsmaschine.
Am 20. April 1994 lese ich in der FAZ einen Artikel mit dem Untertitel: "Fünfzig Jahre nach Giovanni Gentiles Tod: Immer noch sind alle Fragen offen." In diesem Feuilletonbeitrag findet sich folgender bemerkenswerte Satz: "Obwohl Gentile es war, der 1931 an den Universitäten den Treueeid auf das faschistische Regime einführte -- nur zwanzig von zwölfhundert Professoren verweigerten ihn und wurden dafür entlassen -- verfolgte er kulturpolitisch eine Linie der Toleranz." (S. N5) Da scheinen wirklich ziemlich viele Fragen offen. Die stramme Antwort gibt Franz Ungler: "... wenn jene von Freiheit reden, so weisen ihre Metaphern z.B. 'offen' und 'geschlossen' darauf hin, daß sie statt Freiheit zu begreifen nur die Vorstellung vom leeren Raum dem Namen anhängen." (Ungler, S. 42) Freiheit im Sinn der Kerngruppe der Freiheitlichen braucht eine starke Hand. Einstweilen herrschen noch beträchtliche Koordinationsschwierigkeiten zwischen Faust und Samthandschuh. An ihrer Beseitigung wird gearbeitet.
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