Eine pragmatische Begründung für Toleranz betont, daß kein Wort, und auch keine Argumentationskette, so wichtig sein kann (oder sein sollte), daß ,,alles`` davon abhängt. Das ist ein respektabler Standpunkt: Nix is fix, es kommt letztlich darauf an, im Spiel der historisch wechselnden Kräfte und Gegenkräfte zu überleben. Ohne diese Position zu diskutieren, ist dennoch eines klar. In ihrem Rahmen ist Toleranz, wie alle anderen Begriffe und Einstellungen, ein Orientierungspunkt nur in persönlichem Ermessen. Niemand kann sich gegenüber Kontrahenten, die nicht in der eigenen Klientele sind, auf sie berufen. Das heißt zugleich, daß die Befürworter eines exponierten Toleranzbegriffes die Last des sogenannten Dogmatismus nicht bloß einer polemisch distanzierten Gegenseite zuschieben können. Das meines Erachtens stärkste Motiv, zur Kritik des diesbezüglichen Pragmatismus wurde schon zu Beginn genannt. Es ist der Hinweis, daß man sich das abgehoben prinzipienfreie Verhalten erst einmal leisten können muß. Zweifellos handelt es sich um einen erstrebenswerten Luxus, doch seine Grenze findet er, wo die Verteidigung der Toleranz mühsam wird. Das ist nun das Überraschungsmoment, an dem der Erzbischof den Verfechterinnen der Liberalität - gegen den Augenschein - näher steht, als die postmodernen Zeitgenossen. Wenn zum Sinn dieses Wortes die Koexistenz einander ausschließender Denk- und Argumentationszusammenhänge gehört, dann ist die Position, der gemäß sich alles Reden immer irgendwie mit den Umständen arrangiert, schwerlich ein Ansprechpartner. In einem derartigen Weltbild fehlt der Ort, den nach klassischer Auffassung die Toleranz besetzt. Umgekehrt gilt dann: Ihr hervorgehobener Begriff impliziert echte, unlösbare Konflikte, also Inflexibilität. Das soll kein dialektischer Exkurs werden, sondern der Hinweis auf eine Eigenart der Sinnproduktion. Sie ist in Umständen verankert, die nicht nach Belieben disponibel sind. Auch Toleranz ist zu Zeiten, wenn überhaupt normativ, ein unbedingter Begriff.
Rückübersetzt in die Begrifflichkeit des sprachanalytischen Ansatzes lauten diese inhaltlichen Aussagen so: Isolierte Zeichenketten können keinen kommunikativ einlösbaren Gehalt an sich binden. Wenn man ihre Deutung freigibt, können sie zu ganz unterschiedlichen Zwecken eingesetzt werden. Allerdings reduziert sich die Gemeinsamkeit dieser Verwendungsweisen dann auf den Wortklang - und damit verschwindet die inhaltliche Überschneidung der Interpretationsvarianten. Sie stehen zueinander in keinem Verhältnis, daß der Rede wert ist. Die Gruppendynamik deckt sich an keiner Stelle mit der mathematischen Gruppentheorie. Dann fehlt der Raum für Konsens ebenso wie für Dissens und es wird schwierig, Toleranz von Indifferenz zu unterscheiden. In diesem Zusammenhang läßt sich auch ein Kriterium für den anspruchsvollen Toleranzbegriff angeben. Sie geht darüber hinaus, daß Worte frei zur Verfügung stehen. Das Ideal besteht darin, daß Andersdenkende mit bestimmten Worten, die in der eigenen Denkökonomie eine wichtige Rolle spielen, abweichend umgehen dürfen. Das heißt: Nicht ignorant, sondern gezielt gegensätzlich. Dabei fallen die Verwendungsweisen nicht restlos auseinander, sondern sie überlappen - nur so entsteht der Streit über die Weiterverwendung gegebener Termini. Angesichts der unerläßlichen Anfangsinvestition, welche die Zugehörigkeit zu einem linguistischen Verband erfordert, kann ein solcher Dissens an den Kern des Selbstverständnisses gehen.
Für solche Krisen empfiehlt das Manual der Konfliktforschung verbale Abrüstung. Wer wollte widersprechen? Hinzuzufügen ist jedoch, daß sie zu weit gehen kann, nämlich bis an einen Punkt, an dem die umstrittenen Worte nurmehr Klanghülsen sind. Mit der Auseinandersetzung verschwindet dann zugleich eine Möglichkeit des Selbst-Seins. ,,Radical interpretation`` hebt hervor, daß es im Ernstall gegenüber Unbekanntem gar keine andere Chance gibt, als sich auf mitgebrachte Voraussetzungen zu verlassen. Die Rolle des Fremden in der Konstitution des Eigenen läßt sich mit zwei Bemerkungen über alternative Interpretationen umreissen. Den vorgetragenen Überlegungen könnte nämlich entgegnet werden, die Radikalität der hermeneutischen Anstrengung sei eine wirklichkeitsfremde Fiktion. Was in der Welt auftaucht, ist immer schon auf vielfältige Weise verstanden. Doch diese Relativierung verwischt einen Umstand, der prinzipiell für alles Verstehen gilt. Es ist unmöglich, das ist die erste Bemerkung, Alternativen an den Beginn des Sprachverstehens zu setzen. Sprecherinnen sind zeitweise mit verschiedenen, auch äquivalenten, Deutungen von Zeichenketten konfrontiert. Das soll nicht bestritten werden. Die These bezieht sich auf den systematischen Ort, an dem Optionen zur Verfügung stehen. Um etwas anders verstehen zu können, muß man es zuvor verstehen. Das ist kein Argument gegen Bedeutungswechsel, sondern die Einsicht, daß etablierte Umstände und Alternativen einander wechselseitig bedingen. Ohne festen Halt für die Füße kann ein Kasten nicht verschoben werden.
Daß der Fixpunkt sich auf den zweiten Blick vielleicht als eine unter mehreren Möglichkeiten erweist, spricht nicht gegen diese These. Die zweite Bemerkung bezieht sich auf dieses Szenario. Es ist unerfindlich, was Alternativen anderes sein können, als Alternativen zu etwas. So, wie es keinen Sinn macht, die Abfolge der natürlichen Zahlen so umzukrempeln, daß die Sechs vor der Drei zu stehen kommt, bedarf das Konzept der Alternative eine vorliegende Position. In der Bezugsgruppe, die Vorträge über Toleranz besucht, gehört die Sympathie der kreativen Abweichung von der Norm. Die folgende Erinnerung bestreitet das nicht, sondern will - ganz im Gegenteil - dieselbe Einstellung stärken, wenn auch mit einem umstrittenen Motiv. Die Hälfte der Beweglichkeit ist die Standfestigkeit, ohne die es sich nicht um Bewegung, sondern um erratische Positionsänderungen handelt. Noch ein Blick zurück zum Erzbischof. Er hat, nach Presseberichten, auf die Kritik an seiner praktizierten Glaubensüberzeugung geantwortet, daß ihn niemand davon abbringen könne, der katholischen Messe die höchste Bedeutung zuzuschreiben. Die hier vertretene Empfehlung lautet, den Habitus belustigter oder polemsicher Liberalität zu vermeiden. Die Kompromißlosigkeit des kirchlichen Würdenträgers indiziert eine Fehlanpassung im säkularen Staat, der für Unvereinbarkeiten dieser Art Neutralität vorschreibt. Doch erstens handelt der Bischof nicht in diesem spezifischen Sinn als Staatsbürger, und zweitens sollte man, gerade auch als Andersdenkender, seine fixe Idee respektieren. Letzlich kommt die Courage, für unerwünschte Überzeugungen einzustehen, wenn sie sich an einige unverzichtbare Spielregeln hält, der Toleranz zu Gute.