Das Fazit dieser Überlegungen spricht gegen die Einmischung der Philosophie in die Domäne der Mathematik. Felix Kaufmann hat eine starke These über die axiomatisierte Mengentheorie vorgelegt.
Derartige Systeme müssen nämlich aus Zählaussagen bestehen und beschreiben daher - der ihnen zugrunde liegenden Absicht und der angewandten Cantorschen Terminologie zuwider - in Wahrheit (Hervorhebung H.H.) ausschließlich Beziehungen im Rahmen des Abzählbaren.So wie sich in dieser Kontroverse der Sinn von ,,Existenz`` gespalten hat, geschieht es mit dem Verständnis von Wahrheit. Der Umgang mit diesem Begriff sieht in der Modelltheorie ganz anders aus, als in der klassischen Erkenntnislehre, auf die sich Kaufmanns Korrekturvorschlag bezieht. Cantor hat in einer Abhandlung über das aktual Unendliche die Gegenrechnung aufgemacht und auf den tiefsitzenden Konservativismus seiner Kontrahenten verwiesen, die
von vornherein den in Frage stehenden Zahlen alle Eigenschaften der endlichen Zahlen zumuten oder vielmehr aufdrängen, während die unendlichen Zahlen doch andrerseits, wenn sie überhaupt in irgendeiner Form denkbar sein sollen, durch ihren Gegensatz zu den endlichen Zahlen ein ganz neues Zahlengeschlecht konstituieren müssen ...Heute würde man sagen: die normale Wissenschaft steht einem Paradigmenwechsel eben verständnislos gegenüber. Phänomenologische Unbefangenheit ist eine schlechte Voraussetzung für die Grundlagentheorie formaler Disziplinen.
Die angekündigte unbequeme Position ist jetzt erreicht. Ich kann Kaufmann in der Sache nicht folgen und muß angeben, ob dieses negative Resultat von allgemeinem Interesse ist. Wenn es nicht bloß auf die Empfehlung hinauslaufen soll, Grenzüberschreitungen in Zukunft zu vermeiden, muß die von Kaufmann versuchte Konfrontation einen eigenen Wert haben. Der darin angemeldete klassisch-philosophische Wahrheitsanspruch ist höchst prekär. Als Konsequenz aus Kaufmanns Mißerfolg ist zu überlegen, ob er nur noch ein Relikt aus alten Zeiten ist. Oder steht auch für die Erkenntniskritik ein neues Paradigma zur Diskussion?
Die Vorschläge, wie in dieser Lage zu verfahren sei, reichen von der Affirmation der philosophia perennis bis zur Absage an die ganze abendländische Tradition. Aus diesem Spektrum will ich eine Möglichkeit hervorheben, die auf Kaufmann passen könnte. Von Grenzen, die Fachleute ziehen, unbeeindruckt zu bleiben, ist der Beginn einer Ordnungsstörung. Das Transzendente der Transzendentalphilosophie ist in der beschriebenen Weise hochmütig - und auch eine Subversion der Selbstherrlichkeit, mit der sich, gerade angesichts des Auslassens philosophischer Systeme, einzelne Wissensgebiete aufspielen.
Erkenntnistheorie erscheint in dieser Perspektive als zwiespältiges Unternehmen. Sie steht als Disziplin über Disziplinen und trägt dazu bei, fachspezifische Einteilungen zu unterwandern. Wie das im Einzelnen geschehen könnte, ist eine eigene Sache. Einen Ausgangspunkt bildet die Einsicht, hinter der altbewährten Opposition zwischen Kritik und Schwärmerei verstecke sich in Wirklichkeit ein tiefgreifendes Einverständnis. Angesichts der Zügellosigkeit der Phantasie gedeiht auch die Begriffsaskese; die methodische Beschränkung des Erkennbaren und die Grenzübertretung schaukeln einander auf. Sich diesem Spiel zu entziehen kann bedeuten, ohne Rückhalt in einer Metatheorie die Pläne einzelner Territorien zu durchkreuzen.
Auf Felix Kaufmann angewendet: Hätte er Kant und Husserl nicht unbesehen vorausgesetzt, hätte er sich mit größerem Risikobewußtsein und parteilicher in die Auseinandersetzung mit Cantor begeben. Ein deplazierter philosophischer Impuls, der, ohne Rückbezug auf garantierte Wahrheit, für sich selber sorgen muß, kann immer noch tief in scheinbar abgesperrte Gebiete vordringen. Aus dem Jahr 1987 stammt der folgende Dialog:
,Aber eines möchte ich doch wissen: Gibt es bei euch niemanden, der gegen eine solche Mathematik protestiert?` ,Doch, doch, seit es sie gibt, wird sie auch kritisiert. Diese Art Mathematik geht im wesentlichen auf Cantor zurück, das war vor etwa 100 Jahren. Aber die Kritik stößt ins Leere. Man könnte sagen: Sie hat zwar die besseren Argumente, aber die Gegenkritik hat die besseren Schlagworte`Es handelt sich um ein Zitat aus der Abschiedsvorlesung des schweizer Mathematikers Ernst Specker an der ETH Zürich. Sie trägt den Titel: ,,Postmoderne Mathematik: Abschied vom Paradies? Der Streitfall ist, wie man sieht, noch immer nicht beigelegt. Die Argumentationsweisen müssen sich ändern. Dazu hilft die Verständigung darüber, wie es nicht geht.