Der philosophische Gestus Adornos verbietet ihm, seine Gedanken Schritt für Schritt einzuführen. Bereits ihr erstes Auftreten ist so komplex, wie sie im Verlauf der Abhandlung bleiben werden. Um sie nachzubuchstabieren, muß man mit simpleren Annahmen beginnen und sie an Adornos Absichten bewähren bzw. scheitern lassen. Eine erste Hilfskonstruktion zur Explikation der ,,Pirouette`` legt sich von Hegel aus nahe. Offenbar handelt es sich um eine Negation der Negation: das Ausbleiben der Revolution wird nicht als Faktum akzeptiert. In dialektischem Verständnis ist das keine wirklichkeitsfremde Verweigerung eines historischen Verdikts, sondern eine in sich differenzierte Spannung. Die Enttäuschung wird anerkannt, doch nicht als letztes Wort genommen. Die Wiederaufnahme des - im ersten Anlauf gescheiterten - marxistischen Projekts greift uneingelöste Themen und Forderungen auf, die im faktisch siegreichen Kapitalismus nicht verschwunden sind. Die ,,Negative Dialektik`` hält sich genau an Hegels Diktum:
Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes. Er gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet.1
Das heißt vor allem: nicht wegschauen, wenn etwas schiefgegangen ist. Die Macht des Geistes erweist sich angesichts des Todes,
er ist diese Macht nur, indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt. Dieses Verweilen ist die Zauberkraft, die es in das Sein umkehrt.2
In diesem Sinn verweilt Adorno beim Fiasko der bolschewistischen Verwirklichung der Einheit von Theorie und Praxis. Der Zustand, in den das Fiasko uns versetzt hat, muß die Anhaltspunkte für seine Überwindung mit einschließen. Die ,,Zauberkraft``, von der Hegel spricht, hat einen systematisch präzisen Namen: ,,bestimmte Negation``. Es reicht nicht, vorgefundene Verhältnisse abzulehnen.
Das Nichts ist aber nur, genommen als das Nichts dessen, woraus es herkommt, in der Tat das wahrhafte Resultat; es ist hiemit selbst ein bestimmtes und hat einen Inhalt.3
Das Verweilen beim Fiasko ist die Voraussetzung zu jener Negation der Negation, die inhaltlich so überzeugend ausfällt, daß sie den Prozeß um eine Stufe weiter bringt. Dieses Hegelsche Dispositiv wirkt in Adornos Einstellung zur Überlieferung maßgeblich weiter:
Die Methexis der Philosophie an der Tradition wäre aber einzig deren bestimmte Verneinung. Sie wird gestiftet von den Texten, die sie kritisiert.4
Dialektik ist ein ständiger Rückgriff auf gedankliche Inhalte, die sich adäquat nur entwickeln können, wenn sie sich der Bewährungsprobe der Realisierung unterziehen, dabei zerbrechen und danach sachkundig wieder aufgenommen werden. Die ,,Negative Dialektik`` proklamiert es abschließend als Prinzip: ,,Solches Denken ist solidarisch mit Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes.``5 Es verweilt und muß die Kraft aufbringen, die Sache der Gestürzten zum Guten zu wenden. Dazu braucht es die Überlieferung, ohne sie widerspruchslos annehmen zu können. Das Kunststück besteht darin, ihr so zu widersprechen, daß sich die Inhalte, die dort bloß angelegt sind, in Zukunft verwirklichen lassen; solidarische Subversion.
Das ist eine simple Lesart der Grundfigur Adornos - nicht falsch, doch viel zu stark am Hegelschen Paradigma orientiert. Das Buch ist voll von Invektiven gegen den idealistischen Systemzwang. Es kann nicht ernsthaft auf ein Arrangement bauen, das der bestimmten Negation den Qualitätssprung auf die nächste Stufe eines vernunftgeleiteten Prozesses garantiert. Adornos dialektische Expositionen insistieren darauf, die Wahrheit von These und Anti-These produktiv zu vermitteln, ebenso ausgeprägt ist allerdings die Einsicht, daß dieses - überlieferte - Verfahren selbst an entscheidender Stelle krankt. Um es plakativ zu sagen: Dialektik ist die ,,Ontologie des falschen Zustands``.6 In ihr herrscht eine Obsession, Dinge an Gedanken anzugleichen. So sehr sie darauf pocht, die Negativität ihrer Begriffsinterventionen sei nur die Reaktion auf objektiv widersprüchliche Verhältnisse, sie kann dem Vorwurf nicht entgehen, der Umschlag von der Nicht-Identität zur Identität sei eine Gedankeninszenierung. Was Hegel die Macht des Geistes nannte, läßt Unbegriffenes nicht so sein, wie es ist. Es muß in diesem bloßen Dasein dialektisch negiert werden - und damit wird ihm Zwang angetan. In geeigneter Perspektive handelt es sich um einen notwendigen Eingriff, doch Adornos Dialektik geht nicht so weit, diese Intervention selbst dialektisch zu legitimieren. An dieser Stelle hat Hegel den Schritt vom Verweilen zur bestimmten Negation durch den systematischen Fortgang der Dialektik selbst abgestützt. Adorno reagiert mit einer solidarischen Subversion des dialektischen Verfahrens.
Vor der Beschreibung dieses Manövers ist ein allgemeiner Hinweis angebracht. Solidarische Subversion ist ein trickreiches Unternehmen. Was dem einen Solidarität ist, wird jemand, den die damit verbundene Subversion trifft, leicht als Vertrauensbruch wahrnehmen. Die Kritik kommt von innen - umso unerwünschter kann sie sein. Bestimmte Negation operiert mit dem systematischen Privileg, genau markieren zu können, was am Negierten produktiv zu nützen ist und was historisch auf der Strecke bleibt. Das wird prekär, wenn diese Methode iteriert wird; wenn sich das Subversionspotenzial der Dialektik an der Dialektik selbst versucht. Man kann ihr insgesamt nicht durch bestimmte Negation beikommen. Andererseits verbietet die dialektische Schulung, sich auf äußerliche Alternativen zu verlegen, deren Stringenz nicht im gedanklichen Duktus nachgewiesen werden kann. Die Solidarität verlangt den Respekt vor einem systematischen Vermittlungsanspruch, den die Subversion unterminieren muß. Dialektik läßt sich nicht dialektisch überwinden, darf aber auch nicht bleiben, was sie bisher war. Der Versuch, mit diesem Widerspruch umzugehen, erzeugt unvermeidlich kognitive Schizophrenie. Der Dialektik, die auf die herkömmliche Verfahrensweisen pocht, begegnet ihr Gegenbild auf der nächsten Stufe: eine qualitativ weiter entwickelte Denkform, die sich aus der bekannten Dialektik herleitet. Für beide zusammen kann nicht dieselbe Entwicklungslogik gelten.
Adornos Versuche, die Ontologie des falschen Zustands von innen her aufzubrechen, zeigen anschaulich, worin die Schwierigkeit besteht. Eine Möglichkeit, die er vorschlägt, verzichtet auf den überlegenen Kontrollanspruch der Theorie den Dingen gegenüber, die es zu begreifen gilt. Der Identitätsdenker unterwirft sich die Welt mit herrschaftlicher Attitüde. ,,Demgegenüber wirft Erkenntnis, damit sie fruchte, a fond perdu sich weg an die Gegenstände.``7 Der Dialektik wird eine Kenosis vorgeschrieben.
Ihren Gehalt hätte sie in der von keinem Schema zugerichteten Mannigfaltigkeit der Gegenstände, die ihr sich aufdrängen oder die sie sucht, ihnen überließe sie sich wahrhaft 8
Adorno sieht die Auswirkung genau: ,,Gegen Risiko des Abgleitens ins Beliebige (sic!) ist der offene Gedanke ungeschützt ``9. Es fragt sich allerdings, wie diese Einstellung mit der allerorten eingemahnten Dialektik zusammengeht. Als unvermeidliches, wenn auch anstößiges, Schema steht sie der plastisch beschriebenen Entäußerung im Weg. ,,An ihr ist die Anstrengung, über den Begriff durch den Begriff hinauszugelangen.``10 Doch das erfordert eine doppelte Buchführung. Einerseits ist ein Begriff festzuhalten, aus dem der angestrebte Erkenntnisgewinn systematisch-schlüssig resultiert. Andererseits kann das Ziel nicht mehr die Züge dieser Begriffspraxis tragen. Wie unterscheidet man zwischen dem Besonderen, dem Adornos Hoffnung gilt, und dem Beliebigen, gegen das er das geballte Instrumentarium der Dialektik einsetzt? Der Test kann schwerlich auf dialektischen Prüfungen beruhen.
Ähnlich verwickelt ist ein anderer Versuch, das Denken im falschen Zustand zu überbieten: die prophetische Position. Wer den Messias verkündet, impliziert, daß eine neue Welt beginnt, obwohl er Teil der alten ist. Soviel im bisherigen Zustand muß vertretbar sein: Die Invokation der Erlösung, die das Leben ganz verwandelt. Die ,,Negative Dialektik`` setzt mit der Feststellung ein, ein Kairos sei ungenützt verstrichen. An einigen Stellen suggeriert Adorno, um nochmals einen zu verdienen müsse sich Philosophie, nachdem sie sich dem mühsamen Pensum radikaler Selbstkritik unterzogen hat, mit einer letzten Anstrengung gegen das eigene Herkommen wenden. Das utopisch Andere, welches sich negativ im universalen Verblendungszusammenhang spiegelt, könnte - nach dieser spekulativen Transgression - einem Denken zugänglich sein, das an der Verblendung teilnimmt und dennoch auch hinüberreicht.
Der Totalität ist zu opponieren, indem sie der Nichtidentität mit sich selbst überführt wird, die sie dem eigenen Begriff nach verleugnet. Dadurch ist die negative Dialektik, als in ihrem Ausgang, gebunden an die obersten Kategorien von Identitätsphilosophie. Insofern bleibt sie falsch, identitätslogisch, selber das, wogegen sie gedacht wird.11
Diese Auskunft untermauert das Dilemma. Entweder das falsche Denken schlägt zuletzt auch noch die Transgression in seinen Bann, oder ein Funken Wahrheit bleibt unverdorben. Wer ihn zu sagen weiß, stände außerhalb des Teufelskreises.
Dialektik ist ein methodologisch gezielter Umgang mit Grenzen und Grenzüberschreitung. Die Erkundung der Grenzen der Dialektik selbst verlangt besondere Rafinesse. Das sollte allerdings nicht davon ablenken, die Bedeutung dialektischer Verfahrensweisen ,,im Normalbetrieb`` wahrzunehmen. Adornos undatierte Grundfigur hat in der DDR zu einem Zeitpunkt nachgewirkt, als in der Bundesrepublik die Weichen bereits anders gestellt wurde. In diesem markant unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontext konnte die Idee der solidarischen Subversion wertvolle Dienste leisten. Hans-Peter Krüger, ein Philosoph der Nachkriegsgeneration, beschreibt es folgendermaßen:
Die Neuinterpratation dieser, vom Stalinismus ausradierten Vorgeschichte wurde von den 50er bis zu den 70er Jahren zur wichtigsten Revisionsform der ideologischen Legitimationen neostalinistischer Diktaturen. Sie lohnte als ein Pergament, dessen ursprüngliche Beschriftung im Horizont auch westlicher Hegel- und Marx-Deutungen, vor allem der Erwartungen und Enttäuschungen der 68er Generation, noch in den 70er Jahren zum Leben erweckt werden konnte.12
Schlichter als die schwindelerregende Pirouette ist Krügers Bild vom Palimpsest dennoch eine getreue Antwort auf Adornos Bewegung. Die herrschende Doktrin hat Mitteilungen überschrieben, die gegen die Macht der Oberfläche wieder zu gewinnen sind und dieser Oberfläche die Selbstverständlichkeit nehmen. ,,Solidarische Subversion`` erhielt in diesem Zusammenhang einen handfesten Sinn. Angesichts eines oppressiven Staates, von dessen Ideologie sich linke Intellektuelle dennoch nicht gänzlich distanzieren konnten, wurde daraus ein täglicher Kleinkrieg, in dem die Integrität der theoretischen Arbeit gegen die Vorgaben der Parteilinie verteidigt werden mußte. Ein Beispiel dieses symbiotischen Verhältnisses ist die Unterwanderung des - gleichwohl auch anerkannten - Ideals der Herrschaft des Proletariats.
Der destruktiven Erweiterung des Zirkels kapitalistischer Reproduktion widersteht letztlich nichts anderes als Gegen-Macht. Revolutionäre Gegen-Macht schließt die Gefahr ein, daß die stählerne Maske des Revolutionärs mit diesem, bis zu seiner Unkenntlichkeit im Tode, verwächst, statt je von ihm wieder abgenommen werden zu können.13
In solchen Passagen wird deutlich, wie sich bestimmte Negation zur Strategie partieller Dissidenten eignet. (Totalverweigerung ist eine andere Sache.) Den Fortschritt erhofft man davon - bisweilen listig - auf Themen zurückzugreifen, deren Sprengkraft den herrschenden Autoritäten nicht fremd und nicht geheuer sein können. Vorhin war die Rede vom Ausfransen der Dialektik an ihrer Grenze. Das eben zitierte Beispiel ihrer Anwendung demonstriert einen weiteren Aspekt. Die Konstruktion der Symbiose zwischen Solidarität und Kritik kann zusammenbrechen.