in: Wittgenstein Studien 1(1994) 11-1-94.txt

Niemand kann von vornherein, abgesehen von empirischen Untersuchungen, die chemische Zusammensetzung von Wasser oder die physikalische Erklärung der Wärme kennen. Andererseits ist ein Satz wie ,,Wasser ist H2O„ schwerlich eine Aussage über etwas, das auch ganz anders sein könnte. S.Kripke hat in Naming and Necessity daran erinnert, daß solche Sätze Wahrheiten enthalten, die zwar empirisch herausgefunden werden müssen, dann aber unter allen Umständen gelten.gif Wenn wir die chemische Zusammensetzung von Wasser festgestellt haben, steht die Beschaffenheit dieses unseres Wassers nicht mehr in Frage. Hinsichtlich der Newtonschen Physik hat N.R.Hanson dasselbe Thema bereits zur Zeit der Hochblüte analytischer Wissenschaftstheorie angeschnitten. Er bemerkt zum logischen Status der klassischen Mechanik: ,,Sie (sc. die Mechanik) entsteht aus empirischen Behauptungen, deren Widerlegung man sich nicht immer vorstellen kann. Eine Widerlegung würde nicht zu Entwürfen führen, welche jene der Gesetzesaussagen negieren, sondern zu überhaupt keinen verständlichen Entwürfen.„gif Ein Stein, der nicht den Newtonschen Gesetzen gehorcht, ist keine statistische Ausnahme, sondern ein rätselhaftes Gebilde, die Bezeichnung ,,Ding„ ist schon zuviel. Hanson verweist zurück auf Kant, dessen Erkenntnistheorie einen Versuch darstelle, konventionalistische ebenso wie empiristische Einseitigkeiten angesichts dieses Befundes zu vermeiden.

Bekanntlich steht die sprachanalytische Tradition skeptisch zum Arsenal technischer Termini und reflexiver Strategien der Transzendentalphilosophie. Ich möchte diese Opposition hier an einer Stelle aufweichen. Philosophie am Leitfaden unserer Grammatik steht in der angesprochenen Sache der klassischen Themenstellung überraschend nahe. Es läßt sich zeigen, daß eine von Wittgenstein immer wieder reflektierte Unterscheidung, nämlich die Differenz zwischen Erfahrungssätzen und solchen, die Kriterien für Erfahrung enthalten, sprachanalytisch als Problem der Vorzukunft, transzendentalphilosophisch hingegen als jenes der Synthesis a priori zu fassen ist. In diese Perspektive passen auch die metaphysisch formulierten Analysen Kripkes.

Als gemeinsame Ausgangsfrage bietet sich das Problem an, ob eine Vermittlung zwischen a priori und a posteriori denkbar ist. Das Wissen, das jemand schon mitbringt und was er erst nach bestimmten Experimenten wissen kann, lassen sich verschiedenartig zusammendenken. Einmal als Addition von Erkenntnissen im Verlauf der Zeit, dann aber auch als Antwort auf die Frage, wie zukünftiges Wissen davon bestimmt wird, was schon an Wissen erworben (oder bereits vorausgesetzt) ist. Zur Beschreibung der ersten Möglichkeit genügen die einfachen Zeitformen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Der zweite Fall liegt komplizierter. Zukünftiges wird nicht bloß als bevorstehendes Ereignis betrachtet, sondern unter Bedingungen gestellt, die daher kommen, daß etwas bereits eingetreten ist. Vergangenheit im Rahmen der Zukunft ist grammatisch als Vorzukunft zu fassen, also als jene Zeitform, in der eine Handlung zu einem künftigen Zeitpunkt als abgeschlossen vorgestellt wird. Beispiel: ,,Sie wird gekommen sein.„ Ich möchte eine Reihe Wittgensteinscher Gedanken mit Hilfe dieser Tempusbildung interpretieren und sie anschließend als sprachanalytische Versuchsstation der erkenntniskritischen Frage nach den Bedingungen der Erfahrungserkenntnis betrachten.

An einfachen Rechenaufgaben läßt sich die zentrale Unterscheidung gut diskutieren. Die Aufforderung, zu 4 ,,eins dazuzuzählen„, meint eine in Zukunft auszuführende Operation, deren Resultat in der Aufgabe noch nicht gegeben ist. Andererseits sind wir selbstverständlich schon jetzt sicher, was herauskommt. Wir würden eine andere Antwort als 5 nicht als interessante Irregularität, sondern als Indiz der Unfähigkeit zu zählen auffassen. So weit reicht die Bereitschaft, sich auf neuartige empirische Ergebnisse einzulassen, nicht. ,,Soll es kein Erfahrungssatz sein, daß die Regel von 4 zu 5 führt, so muß dies, das Ergebnis, zum Kriterium dafür genommen werden, daß man nach den Regeln vorgegangen ist.„gif Wittgenstein spricht nicht von analytischen Wahrheiten der reinen Arithmetik. Ihr Ergebnis bedarf keiner Überprüfung durch Kriterien. Es geht vielmehr um die Bedingungen, unter denen der Formalismus richtig angewendet wird. Sie lassen sich nur in einer eigentümlichen Verschachtelung beschreiben. Zu einem gegebenen Zeitpunkt kann man der korrekten Anwendung einer Regel nur gewiß sein, wenn man die Zustimmung zum Resultat antizipiert. Oder von der anderen Seite: als richtig wird nur anerkannt, was sich vorweg der Vorschrift unterworfen hat. Regeln verlangen sorgfältige temporale Differenzierungen. Das wird in Wittgensteins Beispiel doppelt deutlich, weil es derselben Satz ist (,,4+1=5„), der als Mitteilung des Ergebnisses und als Festlegung der Bedingung, nach der eine Antwort ein Ergebnis sein kann, interpretierbar ist. Mit dieser Pointe erschließt sich eine Dimension über den glatt auf Empirie bezogenen Wahrheitsbegriff hinaus. ,,Die Wahrheit des Satzes, daß 4+1 5 ergibt, ist also, sozusagen, überbestimmt. Überbestimmt dadurch, daß das Resultat der Operation zum Kriterium dafür erklärt wurde, daß diese Operation ausgeführt ist.„ (BGM VI, 16)

Ein Resultat wird errechnet, Kriterien hingegen reichen über diese einfache Zukunft hinaus. Sie bestimmen antizipierend die künftige Entwicklung, sind also ,,vergangener„ und ,,zukünftiger„ als das Resultat. Wittgenstein diskutiert einen temporalen double-bind. Ein Ausgriff in die Zukunft steht unter Bedingungen, die eine Rückbeziehung dieser Zukunft auf bereits Vorhandenes enthalten. Jede den Standards einer Sprachgemeinschaft angepaßte Begriffsverwendung befindet sich in einer solchen Klemme. Analytisch lassen sich die verschiedenen Gebrauchsweisen eines Ausdrucks voneinander abheben, aber das philosophische Interesse liegt auch für Wittgenstein, dem kaum Sympathien für Vermittlungsdenken nachgesagt werden können, bei der Überlagerung von Kriterium und Resultat. Wie kann ein und derselbe Satz Produkt und Prüfstein eines Prozesses sein? Dem unterschiedlichen Gebrauch gemäß hat er verschiedene Bedeutung, aber sind die Bedeutungen nicht systematisch aufeinander angewiesen? Der double-bind besteht ja darin, daß derselbe Satz als Vorschrift und Ausdruck der Konformität mit dieser Vorschrift auftritt. Gerade so wird angezeigt, wie die beiden Praktiken zusammenstimmen. Derartige Verwicklungen kennzeichnen einen speziellen Erkenntnistyp. ,,Die Prophezeiung lautet nicht, daß der Mensch, wenn er bei der Transformation dieser Regel folgt, das herausbringen wird – sondern, daß er, wenn wir sagen, er folge der Regel, das herausbringen werde.„ (BGM III,66) Den Drehpunkt der Prophezeiung bildet ein Urteil, das in Aussicht genommen wird, um die Basis für eine Bewertung zukünftiger Ereignisse abzugeben, kurz gesagt die Position der Vorzukunft.

Die zeitliche Verschränkung, die hier betrachtet wird, ist keine grammatische Randerscheinung. Sie erlaubt uns, von etwas, das noch aussteht, anzunehmen, daß es bereits vorliegt. So ergibt sich die Möglichkeit, die Zukunft von der Gegenwart aus imaginär zu überholen. Beispiele funktionieren nach diesem Muster als Vorgriff auf künftiges Einverständnis. ,, ,Wenn du das und das schreiben wirst, wirst du’s so gemacht haben, wie ich dir’s vorgemacht habe` bestimmt, was er ,seinem Beispiel folgen` nennt.„ (BGM VII,4) Thomas Kuhn hat, ausgehend von dieser Charakteristik von Paradigmen, seine Analyse der ,,normalen Wissenschaft„ entwickelt. Sie trägt die Züge des temporalen double-bind. Wissenschaftliche Stabilität beruht nicht allein darauf, daß Forscher sich auf einen abstrakten Regelkanon verständigen. Darüber hinaus müssen sie ziemlich einig über die Erwartungen sein, die sich mit seiner Anwendung verbinden. Sofern ein Paradigma den Untersuchungsgegenstand präformiert wird Zukunft von der Gegenwart aus als bereits vergangen angesehen; Orthodoxie heißt vorweg über Kommendes Bescheid wissen. Daraus erklärt sich sowohl die Unumgänglichkeit, als auch die Unabschließbarkeit ,,normaler Wissenschaft„. Einerseits kann ohne Wissen über Möglichkeiten gar keine Perspektive entstehen, andererseits bedeutet das eine Einschränkung des Wahrnehmungsraums. Drastisch gesagt: jede standardisierte Tätigkeit trägt Züge des vorauseilenden Gehorsams. Wittgenstein hat es präzise in ein Bild gefaßt: ,,Wir haben dem Pförtner den Befehl gegeben, nur Leute mit Einladungen hereinzulassen und rechnen nun darauf, daß dieser Mensch, der hereingelassen wurde, eine Einladung hat.„ (BGM V,50) Kein Fest ohne vorhergegangene Einladungen, keine wissenschaftlichen Ergebnisse ohne Ausgrenzung überschüssiger Daten.

Aber es gibt spontane Feste und Wissenschaftsentwicklungen, die sich nicht an die gängigen Vorschriften halten, die bekannten ,,wissenschaftlichen Revolutionen„ Kuhns. Wie stehen sie zur Vorzukunft? Anscheinend durchbrechen sie den double-bind, doch bei genauerer Betrachtung nur für kurze Zeit. Das hängt mit einer Unausgewogenheit zusammen, die bereits der Terminus ,,wissenschaftliche Revolution„ anzeigt. Revolution im strengen Sinn greift ohne Anleitung in die Zukunft aus, Wissenschaft dagegen ist, so haben wir gesehen, auf diese Weise undurchführbar. Einem Umsturz der Wissenschaft steht damit ein in die Entwicklung der Wissenschaften aufgefangener Umsturz gegenüber, eine Korrektur und keine völlige Demontage des vorausgesetzten Wissens. In solchen Umbrüchen schlägt Spontaneität nur kurz und relativ auf den vorhergehenden Entwurf durch, bevor sie sich wieder zwischen Experiment und Hintergrundrestriktion einpendelt. Im Fall ,,revolutionärer Wissenschaft„ wird ihr Verhältnis eher komplizierter. Die Zukunft wird von zwei unterschiedlichen Gegenwartsentwürfen als Vergangenheit reklamiert. Zur Frage nach der Homogenität einer Erkenntnisweise kommt jene nach der Einheit der Wissenschaft hinzu. Der neue Vorschlag muß die von der alten Theorie projektierte Zukunft mit einschließen, wenn ein Kontinuum des Fortschritts entstehen soll, ansonsten bedeutet ,,wissenschaftliche Revolution„ Auflösung der Verbindlichkeit der Disziplin.

Diese Überlegungen zum Ineinandergreifen der Zeitformen sind etwas umständlich. Man kann ihnen entgegenhalten, daß sich im klassisch-philosophischen Vokabular eine viel treffendere Ausdrucksweise findet. Dort ist die Rede von a priori gegebenen Kategorien als Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis. Ihre Zeitlichkeit ist transzendentaler Natur. Während Kriterien im täglichen Gebrauch auftreten, bestimmen solche Kategorien die Voraussetzungen möglicher Verständigung. Temporale Beschreibungen sind an diesem Ort bloß Hilfsmittel. ,, …daß wir uns nichts, als im Objekt verbunden, vorstellen können, ohne es vorher selbst verbunden zu haben …„ (Kritik der reinen Vernunft, B129) ist keine psychologische oder grammatische, sondern eine erkenntnistheoretische Bemerkung Kants und hängt von den Windungen des faktischen Sprachgebrauches nicht ab. Es lohnt sich dennoch, die konzise transzendentalphilosophische Ausdrucksweise den sprachanalytischen Überlegungen auszusetzen.

Von einem Beispielsatz wie ,,Alles, was geschieht, hat seine Ursache„ sagt Kant, ,,daß er seinen Beweisgrund, nämlich Erfahrung, selbst zuerst möglich macht und bei diesem immer vorausgesetzt werden muß.„ (Kr.d.r.V. B765) Der Kategorie ,,Ursache„ transzendentale Funktion zuzuschreiben ist eine handliche Formel zur Erfassung dieses Umstands. Aber die in Kants eigener Erläuterung angedeutete temporale Dimension ist weiter explizierbar.

Kategorien ermöglichen Erfahrung. Woher beziehen sie diese eigentümliche Fähigkeit? Martin Heidegger hat es aus der zeitlichen Verfassung des menschlichen Daseins erklärt. Durch Vorzukunft läßt sich diese Einsicht ohne metaphysische Zugaben entwickeln. Kategorien sind quasi zukünftiger als die Zukunft der Erfahrung. Sie sind ihr darin voraus, zu bestimmen, was sein können wird. Ermöglichung von Erfahrung ist keine transzendentale Potenz, sondern Erfüllung einer bestimmten Rolle im Spiel der Zeitformen, das unsere Erkenntnis durchzieht. Transzendentale Begriffe sind schon vorweg auf jene Daten ausgerichtet, die mit ihrer Hilfe Bausteine der Welterfahrung werden. Für sich alleine betrachtet hängen sie in der Luft, gerade wie die Form der Vorzukunft ohne ein in Zukunft eingetretenes Ereignis leer läuft. Mit Inhalt versehen produziert sie jene Sätze, die wegen ihres Vorgriffs über erst Erwartetes hinaus zur Formulierung von unverrückbaren Eigenschaften eines Sachgebiets geeignet sind. Im Grund geht es um verschiedene Ausformungen eines elementaren Zwiespalts. Wir stellen uns Dinge gleichzeitig vor, um sie zu erfahren und vor ihnen geschützt zu sein. Drohender Erfahrungs- und Orientierungsverlust halten einander die Wage. ,, …daß Gegenstände der sinnlichen Anschauung denen im Gemüt a priori liegenden formalen Bedingungen der Sinnlichkeit gemäß sein müssen, ist daraus klar, weil sie sonst nicht Gegenstände für uns sein würden.„ (K.d.r.V. B122) Der Willkür, der wir uns aussetzen, begegnet die Selektion von unserer Seite. In der Polemik zwischen Erkenntnistheorie und Sprachanalyse konnte es so scheinen, als hätte nur jene Einsicht in solche Zusammenhänge. Tatsächlich aber hat man bloß an der richtigen Stelle zu suchen versäumt. Menschen sind der Welt nicht einfach ausgesetzt, sondern können versuchen, in die Zukunft zurückzuschauen. Auf den ersten Blick eine etwas ausgefallene Fähigkeit; aber sie ist ungeheuer praktisch.