Herbert Hrachovec: Wittgenstein im Unterricht. Unerwünschte Nebenwirkungen und unerwarteter Gewinn

in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie 11 (1989). S.101-107
 

Die Überzeugung, daß bloße Meinung im Allgemeinen trügt, gibt eine traurige Wissenschaft. Eine Möglichkeit, ihr auszuweichen, ist Vertrauen in die Oberfläche, die uns die Phänomene zukehren. Für den Umgang mit philosophischen Texten resultiert daraus der Ratschlag, ihr Erscheinungsbild und die durch ihren Gestus ausgelösten Affekte nicht gering zu achten, sondern als erste Anzeichen der Sache zu nehmen, die in ihnen zur Verhandlung steht. In diesem Sinn werde ich an Äußerlichkeiten anknüpfen, die angehenden Philosophinnen und Philosophen schon bei oberflächlicher Lektüre Wittgensteins beschäftigen, und versuchen, aus diesen wissenschaftlich ungeschützten Eindrücken geeignete Ausgangspunkte zur Erschließung seiner philosophischen Bedeutung zu gewinnen.

Werbewirksamkeit

Je nach ihrer Plazierung im Feld gesellschaftlicher Kräfte zieht Philosophie verschiedenartige Interessen in ihren Bann, im Deutschland der Romantik z.B. andere, als in den Vereinigten Staaten des kalten Krieges. Die beiden Fälle kann man klassisch nennen, weil sich in ihrem Umkreis der überwiegende Teil philosophischer Forschung auf einen Nenner bringen läßt und ein kohärentes Bild der Disziplin abgibt. Mit derart klaren Verhältnissen ist nur in Ausnahmesituatonen zu rechnen. Wenn heute überhaupt von der Philosophie die Rede sein kann, dann nur mit der Einschränkung, daß sie im gesellschaftlichen Kräfteverhältnis mehrere, miteinander schwer vereinbare, Positionen einnimmt. Sowohl in ihrer legitimatorischen, als auch in ihrer kritischen Funktion bieten sich mehrere Varianten an. Die Frage, durch welche Qualitäten Studentinnen und Studenten auf sie aufmerksam werden, ist dementsprechend kompliziert. Nietzsche, Marx, Kierkegaard und Sartre sind seit langem maßgebliche Einflüsse für Studienanfänger, hinzugekommen sind Autoren wie M.Foucault, P.Sloterdijk und D.Hofstadter. Die Organisationsform des Umsatzes in den Geisteswissenschaften ist nicht mehr Schule oder Zunft, sondern eher der Selbstbedienungsladen. Erst einmal ist wichtig, welche bunten Formen die Aufmerksamkeit erregen. Wie also sehen die Slogans aus, die angehende Philosophen zu Lehrveranstaltungen bewegen, in deren Titel das Markenzeichen „Wittgenstein“ aufscheint?

Mir fehlen empirische Untersuchungen und ich vermute, daß die bestimmenden Motive in Fragebögen nur undeutlich erkennbar wären. Versuchsweise und etwas spekulativ könnte man vier Attraktionen angeben. Einmal die bekannten, weit über den philosophischen Fachbereich hinaus verbreiteten, Sprüche des Philosophen, die sich als Mottos, Bonmots und Allzweck-Pointen eignen. Wittgenstein gehört zu den Philosophen, deren sachlich verwurzelte Verwendung des Aphorismus als Stilmittel sich in einer Zeit der Kurzmeldungen und Werbespots direkt auf seine Popularität auswirkt. Nietzsche und Adorno sind in einer ähnlichen Lage. Darüber hinaus ist aber ebenso wichtig, daß die von vielen oberflächlich wahrgenommenen Inhalte in seinem Fall existenziell beglaubigt scheinen. Es geht nicht nur um große Sprüche, sondern auch um die Ankündigung einer tiefen Persönlichkeit. An packenden Details aus Wittgensteins Biographie fehlt es bekanntlich nicht, also verschränken sich Merksätze und Anekdoten zu einem Fangnetz, in das zwei weitere Stränge verwoben sind. Auf der Seite der Biographie der internationale Ausblick, den die Beschäftigung mit dem aus Wien stammenden Philosophen, der seine Bedeutung erstmals im englischsprachigen Raum erlangt hat, eröffnet. Und – näher an seiner Gedankenwelt – die Ahnung einer interessanten Zerrissenheit, die sich in seinen oft abrupten und dogmatisch klingenden Äußerungen bemerkbar macht.

Verglichen mit den Verheißungen, die sich an klassisch-deutsche Philosophen knüpfen, scheint dies ein Hauptgrund für das erste Interesse an Wittgenstein: er braucht den Respekt nicht, den man ihm entgegenbringt. Die von ihm kursierenden Gedankensplitter versprechen kein System und werben nicht um Anhänger und Weggefährten. Das Aufsehen, das er erregte, hat er nicht aus wohlerzogener Bescheidenheit von sich gewiesen, es prallte einfach von ihm ab. Dazu paßt, daß er nach seinem ersten Buch praktisch nichts mehr publizierte, unerwünschte Bewerber(innen) nicht in seine Seminare aufnahm und schließlich die Professur in Cambridge zurücklegte. Zur öffentlichen Meinung gehört ein gewisser Masochismus, der sie bisweilen dazu veranlaßt, ihren Verächtern recht zu geben und sich mit schuldbewußter Einsicht ob der eigenen Liederlichkeit schelten zu lassen. Wittgenstein ist Nutznießer dieses Effekts, seine Arbeit wird als dringlich erahnt, gerade weil sie sich nicht aufdrängt, sondern selbstverständlich davon ausgeht, daß es sich um etwas handelt, das nur für wenige bestimmt ist. In der Werbebranche, auf deren Niveau wir uns bis hierher bewegt haben, ist der Effekt bekannt. Was nicht alle haben können, erregt die Begehrlichkeit. Doch damit stehen wir erst am äußersten Rand der Erfahrungen, die mit Wittgensteins Texten tatsächlich gemacht werden. Auch in der Folge lege ich keine repräsentative Studie zu Grunde, sondern beschreibe – theoretisch gebündelt – hochschuldidaktische Eindrücke.

Klarheit

Anders, als simple Emanzipationstheorien es darstellen, suchen Studienanfänger Autoritäten und greifen häufig zu Angeboten, die Welt im Ganzen zu erklären. Die aktuelle Wiederbelebung des Heideggerschen Seinsdenkens durch Derrida ist ein Beleg. Bereitschaft, sich an die Seite des Verdikts gegen die Metaphysikgeschichte zu stellen, ist schnell geweckt, wenn dabei die Gelegenheit geboten wird, einen ganz neuen Anfang zu versuchen. Wittgenstein führt eine spezielle Variante so eines befreienden Neubeginns vor. Statt des mühsamen Auseinanderinterpretierens überlieferter Texte versucht er Philosophie ohne deren Unterstützung. Wie es ihm selbst gelingt, quer durch unzumutbare Naivität hindurch zu genialen Eingriffen in die Substanz der Tradition zu kommen, ist hier nicht das Thema. Wohl aber, daß sein Vorgehen – als Vorbild zur Orientierung niedersemestriger Studentinnen und Studenten genommen – eigentümliche Konsequenzen zeitigt. Die Pauschalaussagen der Metaphysikdestruktion und der Kritik am Logozentrismus sind ihrerseits in einer Sprache abgefaßt, die Unterordnung fordert, also das Autoritätsbedürfnis noch dort befriedigt, wo gegen alle gewachsene Autorität gedacht wird. Gerade dieser Faktor fehlt bei Wittgenstein. Seine Darlegungen bieten zwischen ihrem scharf gezeichneten Aussagewert und dem immensen Affekt, der hinter ihnen spürbar wird, keinen Unterschlupf für Mitläufer, die sich die nötigen Voraussetzungen erst langsam aneignen. Der Sprache fehlen spielerisch propädeutischen Schutzzonen. Die überstiegenen Vorwürfe gegen die bisherige Philosophie, die Wittgenstein zu Grunde legt, gehören sozusagen ihm alleine. Seine Abgrenzung in lauter durchsichtigen Sätzen ist bloß zitierbar, kaum erlernbar. An ihrer Klarheit, die nur scheinbar zum Nachvollzug einlädt, prallen die Identifikationsversuche ab.

Für den Unterricht bedeutet das, daß Wittgensteins Texte sich schlecht dazu eignen, die Lernenden auf jene Ebene zu bringen, auf der sie im Schutz eines vorgegebenen Vokabulars und Stils langsam eine eigene Gedankenwelt aufbauen. Die Philosophie des „Tractatus“ und der „Philosophischen Untersuchungen“ ist an einzelnen Punkten verständlich, doch dazwischen bricht das Verständnis immer wieder ab. Zwei Reaktionen, die den produktiven Umgang mit Wittgenstein verderben, sind auf diesen Umstand zurückzuführen. Entweder man läßt sich von seiner Klarheit täuschen, oder man umgeht sie. Gerade die unternehmungslustigeren Anfänger sehen sich durch Wittgensteins Stil veranlaßt, ihre Spekulationen in eine ähnlich „lockere“ Form zu kleiden. Weiter Fortgeschrittene dagegen sind anfällif für die Versuchung, ihre Inspirationen an der Geschliffenheit der Originaltexte vorbei in die Scholastik der einschlägigen Sekundärliteratur überzuführen. Wittgensteins Transparenz erzeugt Hilflosigkeit. Die häufigste Fehlentwicklung, die ich in Seminaren beobachte, ist der Entschluß, von seiner Direktheit angeregt, Aufgaben anzupacken, deren Kompliziertheit deutlich unterschätzt wird. Die Beobachtung eines Extrembergsteigers verleitet zu Halbschuhtourismus. (Natürlich sagt diese Kritik auch etwas über die Schwächen meiner Seminare.) Gegensinnig zu dieser Entwicklung verläuft eine andere, die Entmutigung jener, die – oft mit richtigem Instinkt – hinter den scharf konturierten Wittgensteinschen Thesen Unausgesprochenes und auch Bedrohliches vermuten und es, weil sie sich überfordert fühlen, durch wortgetreue Wiedergabe meiden.

Wittgenstein hat die Situation selber kommentiert: „Ich zeige meinen Schülern Ausschnitte aus einer ungeheuern Landschaft, in der sie sich unmöglich auskennen können.“ Hinzuzufügen ist, daß er gegenüber dieser Desorientierung nur einen minimalen Vorsprung hat: „Die philosophischen Bemerkungen dieses Buches sind gleichsam eine Menge von Landschaftsskizzen, die auf dieser langen und verwickelten Fahrt entstanden sind.“ Der Gestus steht den üblichen philosophischen Angeboten diametral entgegen. Gewöhnlich ist zu merken, daß es beim philosophischen Arbeiten in die Höhe / in die Tiefe geht. Wittgenstein dagegen schreibt, als gäbe es keine Erhebungen, Brunnen und Quellen, bestenfalls Gruben. Er erweckt nicht den Eindruck, in seinen Notizen handle es sich um wichtige Herausforderungen. Die Landschaft, deren Skizzenbuch er vorlegt, ist dezentral und so komplex geschichtet, daß dem Leser zunächst nur die formalen Qualitäten der Aufzeichnungen auffallen, nichts anderes als ihre täuschende Klarheit. An ihnen kann er sich satt sehen, ohne zu bemerken, daß sie für den Autor die Vermessung eines faktischen Terrains darstellen. Wittgensteins Bilder sind vielfältig verwendbar, dazu ist ein Verständnis ihres Kontexts nicht unbedingt erforderlich. Sie liegen an der Schnittstelle von Ungeheuerlichkeit und Anschaulichkeit. Je schärfer der Schnitt, desto weniger Platz ist an der jeweils ausgezeichneten Stelle. Leicht greift einer daneben, der meint, er bräuchte nur die Skizzentechnik zu kopieren, um Aussichten auf dieselbe Landschaft zu gewinnen.

Wittgensteins Abwehr beschaulicher Verschachtelungen, die viele Philosophen für einen unerläßlichen Bestandteil avancierten Denkens halten, ist von hintergründiger Raffinesse. Ihr Resultat ist eine prädikative Klarheit, die Entscheidendes verdeckt, nämlich den Klärungsprozeß, als dessen Resultat sie dasteht. Es liegt in der bogenförmigen Linie des Wittgensteinschen Philosophiebegriffes, daß unbefangener Alltagsverstand und mühsam gewonnene Einsicht ineinander übergehen. Zwischen beiden liegt ein Mittelstück, in dem die eigentliche Arbeit geleistet werden muß, die doppelte Läuterung des vulgären Starrsinns und der spekulativen Verstiegenheit. Oberflächliche Leser glauben allerdings leicht, daß sie sich bei Wittgenstein nicht bloß den Jargon ersparen, sondern in der Reproduktion seiner unerklärten Klarheit auch die Mühe der Begriffsbildung. Verführerisch bescheiden baut Wittgenstein die Falle auf. „Man kann einen Stil schreiben, der in der Form unoriginell ist – wie der meine – aber mit gut gewählten Wörtern; oder aber einen, dessen Form originell, aus dem Inneren neu gewachsen, ist. (Und natürlich auch einen, der nur irgendwie aus alten Stücken zusammengestoppelt ist.)“ Eine Selbsteinschätzung, die leicht in falsche Hände gerät. Das Allerschwerste, die Loslösung vom Epigonentum, wird als ein Nachgedanke, in Klammern, erwähnt. Wittgensteins epochale Errungenschaft dagegen, die Alltagssprache für die schwierigsten philosophischen Zusammenhänge treffsicher zu machen, stellt er als Selbstverständlichkeit hin, um die Aufmerksamkeit auf die unmäßige, darüber noch hinausgehende, Forderung nach einer genuin neuen Form zu konzentrieren- als wäre Wittgensteins Stil nicht gerade das, was er verlangt. Eine Verlockung zu Experimenten, wo Nachfolge besser darin bestünde, sich klar zu machen, wie tief die „originellen“ Gedanken der meisten mit Philosophie Beschäftigten im Traditionalismus stecken.

Haß-Liebe

Attraktives Auftreten und Stil erzeugen Interesse, Wittgenstein weiter in die dargestellte Landschaft zu verfolgen. Damit verbunden ist das Rätselraten über viele Details seines Skizzenbuches. Sie aufzuzählen ist nicht meine Absicht, stattdessen möchte ich auf eine Erfahrung abheben, die vom stilistischen Befund direkt zu einer unentbehrlichen Klammer des ganzen Unternehmens führt. Das Mittelstück, die begriffliche Vermittlungsarbeit, von der vorhin die Rede war, ist nicht primär aus ästhetischen Gründen immer nur angedeutet, sondern in Folge von Wittgensteins fundamental gebrochenem Verhältnis zur eigenen philosophischen Tätigkeit. Im „Tractatus“ ist es durch die bekannte Geste des Denkers, der mit aller Konsequenz darauf lossteuert, sich überflüssig zu machen, mitgeteilt, in den „Philosophischen Untersuchungen“ – systematisch kaum verändert – durch die Doppeldrehung erstens weg von philosophischer Indoktrination, zweitens zurück zum allgemein Bekannten. Nur und gerade zwischen beiden Wendungen blitzen Gedanken auf, die dem Vorwurf entgehen, Ornament oder Banalität zu sein. Eine verzwickte libidinöse Ökonomie bestimmt das Bild, die prekäre Interferenz von Verwerfungsenergien und Erlösungssehnsucht. In Wittgensteins Philosophiebegriff sind Selbsthaß gegen die bedrängende Verwirrung und Vertrauen in die Kapazität des Denkens, sich manchmal aus dem Sumpf ziehen zu können, zu gleichen Teilen eingeschrieben. Das ergibt eine denkerische Einstellung, die sich deutlich von den meisten Angeboten unterscheidet, die im Vorlesungsverzeichnis zu finden sind.

In der philosophischen Fachbibliothek der Universität Cambridge hängen Porträts der bedeutendsten kanonisierten Denker der europäischen Tradition. Anstelle eines Wittgensteinphotos findet sich in dieser Reihe einer seiner Aussrüche: Es sei nicht wichtig, wie jemand aussieht, sondern was einer denke. Sicher eine überlegenswerte Anregung, aber hier ist sie von übereifrigen Schülern zur Unverschämtheit gegen die anderen Abgebildeten gewendet. Das Beispiel steht für einen immer wieder zu beobachtenden Umschlag der methodischen Ambivalenz des Meisters in eine zweifelhafte Strategie junger Philosophinnen und Philosophen unter seinem Einfluß. Die Bildlosigkeit für sich genommen ist respektabel, sie gehört zur Absetzbewegung asketischer Ideale und negativer Theologie . Aber die Sache ist vertrackter. Die Stoßrichtung der Verweigerung kann sich nämlich nur entfalten, solange sie in die Ahnengalerie einbezogen ist. Und in diesem Kontext wird aus der Doppeldrehung, die ihr Gravitationszentrum in sich selber hat, eine selbstherrliche Spitze gegen den Rest des Berufsstandes. (Wenn ein Verein auf Waldwegen im Wechselgebiet markante Sätze aus dem „Tractatus“ anbringen läßt, ergibt sich ein ebenso sonderbarer Effekt.) Wittgenstein hat die Möglichkeit eröffnet, Philosophiefeindschaft ins curriculum einfließen zu lassen und damit einen neuen Typus der Selbstverständigung für Studentinnen und Studenten geschaffen. Seine Auswirkungen lassen sich negativ und positiv einschätzen. Die innere Zerrissenheit, deren Beruhigung sich viele von der Philosophie erhoffen, wird stattdessen in ihr salonfähig. In vielen Fällen ist das eine Belebung gegenüber verbeamteten Wahrheitsverkündern, Wittgenstein als Prellbock gegen sie. Oft ist es andererseits ein Alibi für die voreilige Zufriedenheit mit ungelenken Ressentiments. Die Beschwerlichkeit der Orientierung verkehrt sich dann ins Gegenteil, wie am Zitat in Cambridge schön abzulesen ist. Wittgensteins Stellungnahme gegen Götzendienst wird Instrument eines Götzendienstes zweiter Stufe, der nun gerade das verherrlicht, was gegen die Verherrlichungstendenz gesagt war. Konkret im Lehrbetrieb: die Belehrten nehmen Wittgensteins Affekt auf, um mittels der vorgelegten Texte – sie sind immer auch systematisch gegen sich selbst gekehrt – den Lehrer, einen Vertreter des suspekten Berufsbildes, in Frage zu stellen. Der Vorgang unterscheidet sich durch eine feine Pointe von den üblichen Emanzipationsprozessen: der Einbruch im vorgegebenen Inhalt selbst erübrigt es, die Negation von Seiten des Lernenden mit Mühe zu erarbeiten.

Das Dilemma der Vortragenden spiegelt die zweifelhafte Position eines aus der Verklammerung mit philosophischem Pflichteifer gelösten antiphilosphischen Affekts Sie unternehmen es, Wittgenstein zum Lehrinhalt zu machen, also seinen Zwiespalt institutionalisiert als positiven Inhalt vorzustellen. Ihre Lage gleicht jenen Sprachlehrern, die Pink Floyds „The Wall“ als Englischaufgabe übersetzen lassen. „Teachers leave them kids alone… All in all you’re just another brick in the wall.“ Das akademische Vokabel für diese Patsche lautet „performativer Selbstwiderspruch“. Nicht ohne Ironie läßt sich beobachten, daß gerade Positionen, die den traditionellen Vernunftbegriff hochhalten (K.O. Apel, J.Habermas) angesichts solcher Entwicklungen zum Exorzismus des Widerspruchs schreiten. Hegels Doktrin steht im Wittgenstein-Unterricht praktisch auf der Probe, während es sich den Einschätzungen der Vernunftvertreter zufolge empfiehlt, den Ast nicht abzusägen, auf dem man sitzt. Gerade „der Positivist“ Wittgenstein versetzt das Denken in eine spannungsgeladene Situation. Er hätte es nie so gesagt, aber für ihn ist philosophische Tätigkeit Aufklärung und Verdunkelung in Einem und nur als beides zusammen kann sie gelehrt werden. Der Weg, den er anbietet, führt nicht zu einem – nach einigen Entbehrungen erreichbaren – Zentrum seiner Landschaft. Ihre Mitte entzieht sich fortwährend. Anstelle von Zugriffen ist anhaltender Erfindungsreichtum nötig, um vom Aufspüren formaler und pragmatischer Widersprüche loszukommen und sich umzusehen, was es unter den widersprüchlichen Bedingungen zu entdecken gibt. Der Haß-Liebe ist nicht einmal und nicht ein-für-allemal zu begegnen. Philosophie im Wittgensteinschen Sinn ist Umgang mit einer doppelten Unvorstellbarkeit, nämlich durch diese sonderbare Tätigkeit ganz zufriedengestellt zu sein oder sie einzustellen.

Arbeitstag und Apokalypse

Der Zugang zur Philosophie, den Wittgenstein anbietet, erinnert an bestimmte Sequenzen aus Horrorfilmen. Die Athmosphäre ist beängstigend normal, für uneingeweihte Betrachter langweilig, doch gerade diese aufdringliche Vertrautheit ist für den Kenner ein Zeichen, daß sich etwas Unfaßbares vorbereitet. Ihre Transparenz ist Täuschung, nicht weil sie Sichtbares verbergen würde, sondern weil die Aufdringlichkeit des Sichtbaren gezielt vom Fremdartigen ablenkt, das seine visuell nicht erschließbare Kehrseite bildet. Das Vertraute ist sich, gegen den Augenschein, nicht selbst genug. Je weniger Erstaunliches es enthält, desto aufdringlicher wird das Fehlen der Projektionen der Zuseher, die darauf zielen, das Fremde zu überlagern, um das Heimatliche von außen in das Vertraute eintreten zu lassen. Aus dieser Konstellation entwickeln sich vielfältige scripts, die Wittgensteins Philosophie allerdings nicht mitmacht. Seine Aufzeichnungen inszenieren weder Verdichtungen von Unheil, noch rettende Katastrophen. Das Bedürfnis nach derartigen konventionellen Dramaturgien erfüllen eher deutsche Denker, allen voran Heidegger und Adorno. Die Erfahrung des Zivilisationszusammenbruches ist dem Österreicher nicht fremd, nur glaubt er nicht mehr an die Erlösungskraft kathartischer Rituale. Seine Sätze sind unauffällig und explosiv, egal ob sie von Rechenregeln oder vom Schicksal des Abenlandes handeln. Die Schwierigkeit seines Stils ist seine Lesbarkeit, die Schwierigkeit des Inhalts die Äquidistanz aller Züge der beschriebenen Landschaft voneinander und von präsumptiven Zentren. Anstrengungen, in Wittgensteins Werk Themen von besonders tiefsitzender Bedeutung hervorzuheben, ergeben nichts Besonderes, weil schon die „unwichtigen“ Themen dem Zentrum nahekommen, so weit es möglich ist.

Desillusionierung ist nicht die Absicht, sondern eine der Vorgegebenheiten dieser philosophischen Bewegung. Wittgenstein rechnet es sich nicht als Leistung an, seine Leser darüber aufzuklären, daß sie einen unabläßigen Kampf mit überkommenen Plattheiten zu führen haben. Seine Nachfolger haben aus dem Verfahren der „Philosophischen Untersuchungen“ eine schnell erlernbare Routine der Entlarvung gemacht. Dabei ist übersehen worden, daß die beiden Stimmen, welche das Buch durchziehen, nicht einem Lehrer und seinem Schüler gehören, obwohl die eine als die einsichtsvolle, die andere als die ungebildete spricht. Beide Zugangsweisen gehören Wittgenstein, er ist Retter und Verführter, der Aufklärung bedürftig und immer schon zur Genüge aufgeklärt. Die Funktion des Philosophen beschränkt sich weder darauf, klarsichtig vor drohenden Gefahren zu warnen, noch aus Opposition gegen die Kassandra-Rufe das Bestehende als sowieso zufriedenstellend auszugeben. Wittgensteins Sprachanalyse stellt die Enttäuschung zur Schau, daß verbale Konstruktionen zur Sinngebung der Welt die ihnen zugemutete Aufgabe nicht erfüllen. Das heißt nicht, daß sie völlig nutzlos sind oder daß die Enttäuschung die Rolle der Erwartung übernehmen könnte. Sie überdeckt die immer wiederkehrende Aussichtslosigkeit bloß nicht und versucht, den Nihilismus in die milde Schizophrenie unheimlicher Vertrautheit aufzufangen.

Die Ungeheuerlichkeit der Aufgabe und die pflichtgetreue Bereitschaft, an ihr als an einem Beruf zu arbeiten, stehen ohne Puffer nebeneinander. Traditionelle Pädagogik hat in zahlreichen Anlüfen versucht, die Beschwerlichkeit des von ihr geforderten Läuterunsprozesses durch die Propaganda für humane Werte zu unterfangen. Das Bild vom Bildungsweg, das sich dafür eingebürgert hat, paßt nicht für den Umgang mit Wittgensteins Philosphie. In ihr sind keine Zwischen- und Endstationen festgeschrieben, sie besteht aus lauter kleinen Schritten, die man nicht addieren kann, um an ein letztes Ziel zu gelangen. So gesehen ist sie eine Antipädagogik, das ständige Verfehlen des erstrebten Ideals zugunsten des augenblicklichen Verweilens bei der Annäherung, das ständig in Gefahr ist, zur Selbstgenügsamkeit zu regredieren. Die moderne Verführung der Jugend, wenn es nach den Humanisten geht. Der Spieß läßt sich allerdings auch umkehren. Vielleicht sind die Systembildner hinten nach und die Lösung der Probleme unserer Zivilisation bedarf der gesamten Komplexität der Enttäuschungen, die sich in ihr entwickelt haben. Dann bestünde die Aufgabe nicht darin, das Nahverhältnis von Alltag und Apokalypse methodisch streng zu fassen oder aufzubrechen, sondern es als Lebensraum begreiflich zu machen.

Solche Aussichten sind im unverbindlichen Gustieren, bei dem wir angesetzt haben, ahnungsvoll verborgen. Wüßte es von ihnen, wären sie ihm vermutlich gar nicht recht. Es stolpert eher in eine kompromißlose Anstrengung um Unbestechlichkeit im Denken. Die Präzision, mit der Wittgenstein den Kollaps der philosophia perennis festhält, erlaubt ihm nicht, Lösungen anzubieten, die Bestand haben. „Die Lösungen philosophischer Probleme verglichen mit dem Geschenk im Märchen, das im Zauberschloß zauberisch erscheint und wenn man es draußen beim Tag betrachtet, nichts ist, als ein gewöhnliches Stück Eisen (oder dergleichen).“ Weder im Märchen, noch in der Philosophie sind die Geschenke schlechterdings nichts. Sie bilden erstens den Schlußpunkt herausgehobener Erfahrungen und zweitens, nach ihrem Ende, immerhin noch Material zur alltäglichen Bearbeitung. Was beide nicht zusammenbringen ist die Garantie der Ankunft beim höchsten imaginären Ziel. Sie führen „nur“ an einen Ort, an dem der Zustand der Begeisterung unversehens in eine Normalität zurückkippt, in der die Anhaltspunkte der Entrückung wieder einmal fehlen. Diesbezüglich hat Wittgenstein seine Ansichten nie geändert. „Man kann die Menschen nicht zum Guten führen; man kann sie nur irgendwohin führen. Das Gute liegt außerhalb des Tatsachenraumes.“

Auch wenn Hochschullehrer gern die Augen davor verschließen: der gesellschaftliche Sinn ihrer Tätigkeit ist auf weite Strecken immer noch die Erziehung junger Menschen zum Guten, Wahren, Schönen. Durch Abwehr dieses Ansinnens werden die Pädagogen es keineswegs los. Die Zurückweisung wird notgedrungen als Stellungnahme zur Sache aufgenommen. Wittgensteins Tätigkeit steht quer dazu. Weder lehrt er das Gute, noch leugnet er, daß es besteht. Er konstatiert, daß es für seine Mittel unzugänglich ist. Das muß nicht Frustration bedeuten. Indirekt ist die Perspektive auf die Überblendung ernüchterter Begeisterung vielleicht doch ein Grund für die anfängliche Faszination durch Wittgenstein. Seine Texte bieten kein Studienprogramm, aber dadurch sind sie unter den gegebenen Umständen nicht weniger vertrauenerweckend. In ihnen ist man davor sicher, daß ihre elementare Gestörtheit in das Gefüge höherer Wahrheiten hinübergleitet. Er ist ein Philosoph, der das Muster des Bildungsromans nicht auf den Kopf gestellt hat, sondern in die Ecke.