15 NOTIZEN ÜBER WELTVERBUNDENHEIT*

Herbert Hrachovec

Seit menschliche Wesen die Welt wahrnehmen geraten sie in eine Schwierigkeit. Ihre Sinnesorgane nehmen Eindrücke aus der Umgebung auf, aber das tun auch Biotope oder Thermometer. Um aus einer Organreizung Wahrnehmung werden zu lassen, ist eine zusätzliche Verarbeitungsleistung erforderlich. Ihre Gesetzlichkeiten operieren relativ unabhängig von externen Impulsen. So werden Mißverhältnisse möglich, vor denen sich die Wesen zu schützen versuchen, u.a. durch Wissenschaft und in der Kunst. Die folgenden Bemerkungen markieren Orientierungspunkte auf einem Weg, der von der Schwierigkeit über diverse Versuche ihrer Beseitigung zu einer These führt: Es ist besser, die drohende Unpäßlichkeit zur Arbeitsgrundlage zu machen, als sie zu überspielen. Die Versuchsanordnungen, mit denen die drei in diesem Katalog dokumentierten Künstler den Zwischenraum im Wahrnehmungsverhältnis auskundschaften, bieten Gelegenheit, eine solche Behauptung konkret zu überprüfen.

POST-IT. Zahlreiche Klassifikationen bringen Ordnung in die Vielfalt möglicher Zeichen. Dabei ist die Grundidee ganz einfach. Ein Zeichen ermöglicht semi-permanente Verbindungen zwischen Menschen und ihrer Welt. Der wiederablösbare Klebezettel leistet ähnliche Dienste. Er vereinigt beides, Fixierung und ihre Revision; sein Hauptzweck ist Befestigung an einer Stelle, dennoch ist er dazu gemacht, an anderen genauso angebracht zu werden. Eine analoge Haftfähigkeit erlaubt es Zeichen, sich ihrem Bezeichneten zu verbinden, wenngleich nicht auf Dauer. Bei Bedarf läßt sich die Verknüpfung wieder lösen, das Zeichen anders applizieren. Ohne Klebkraft entstünde kein Zusammenhalt, ohne Ablösbarkeit wären es keine Zeichen, sondern Naturnotwendigkeiten. Diese Synthese wirft eine Menge Fragen auf, die vordringlichste ist wohl, wie sich das Vertrauen in die Sicherheit der Zeichenverwendung mit der Rückrufbarkeit verträgt. Geht es mit rechten Dingen zu, daß wir uns auf Symbole verlassen, obwohl wir wissen, daß sie nichts garantieren?

WIRKLICHKEITSVERLUST. Dasselbe Thema durchzieht, in reicherer Instrumentierung, die klassische Erkenntnistheorie. Der Mensch hängt durch seine Sinne an der Welt, trotzdem ist diese Abhängigkeit nicht narrensicher. Der Skeptizismus deutet auf den wunden Punkt: es ist nicht auszuschließen, daß Wahrnehmungen, auf die wir uns verlassen, den Kontakt zur Wirklichkeit verloren haben. Die Unterlage kann sich unversehens vom Klebezettel gelöst haben, dann bleiben bloß Gesten der Bezugnahme zurück und wir merken es nicht einmal. Ein peinlicher Zustand, den zu verhindern vieles unternommen worden ist. Zwei Abhilfen sind weit verbreitet. Man hat versucht, die Verankerung von Zeichen und Wahrnehmung besser in den Sachen abzusichern oder ihre Unverläßlichkeit als relativ unwichtigen Faktor im Ensemble des Sozialverhaltens hinzustellen. Der eine Versuch tendiert zum Atomismus, der andere zu pragmatischen Positionen. Die Irritation der Semi-Permanenz wird durch die Festschreibung einfachster permanenter Korrelationen abgewehrt, oder besänftigt, indem darauf verwiesen wird, wie die Mehrzahl unserer Tätigkeiten ohne Probleme abläuft. Die Entwicklung der beiden Beruhigungsversuche im 20. Jahrhundert ist auch für die Ästhetik instruktiv.

BODENLOSIGKEIT. Auf welcher Grundlage können wir den Sinnen trauen? Trompe-l‘?ils, Umschlagbilder, Fotorealismus und virtual reality führen verschiedene Formen ihrer Subversion vor. Sie alle operieren mit der Vorgabe, daß uns die Welt über bestimmte visuelle Reize zugänglich ist. Indem wir diese künstlich reproduzieren, schaffen wir bildliche Darstellungen von ihr; Zeichensysteme, die in Vertretung der Originalimpressionen die Tatsachen vergegenwärtigen. Besonders raffinierten Techniken gelingt es dann, den Unterschied ganz verschwinden zu lassen. Aber das hält sich nicht und gibt der Unsicherheit nur neue Nahrung. Die Täuschungen unterstreichen und unterwandern das Potenzial der Kunst, Bilder der Welt zu erzeugen. Sie decken auf, daß Darstellungsmittel wenn nötig ohne ihnen korrespondierende Wirklichkeit den Eindruck von Realität erzeugen können. Der Skeptizismus tritt auch hier zu Tage. Je perfekter die Vorspiegelung, desto geringer ist nach der Enttarnung das Vertrauen in die Verläßlichkeit von Mitteilungen über eine externe Sache. Auch in der Kunst ist darauf dramatisch oder pragmatisch reagiert worden, mit gesteigerten Anstrengungen, die Wirklichkeit nur ja nicht zu verfehlen, oder mit der Bereitschaft, sich einfach in der Kunstwelt aufzuhalten, solange sie Befriedigung gewährleistet. In beiden Fällen wird die Täuschungsanfälligkeit von Kommunikationsmitteln heruntergespielt, als gäbe es eine unverbrüchliche “Sprache der Kunst“. Sie könnte sich in “Urworten“ oder in “l’art pour l’art“ manifestieren.

SICHERHEITSVORKEHRUNGEN. Nehmen wir ein Beispiel aus der Grundschule. Angenommen, eine Schülerin sieht einen Text und will beginnen, ihn zu lesen. Dabei stellt sich heraus, daß sie sich täuscht; was vor ihr liegt ist eine Zufallsanordnung von Graphemen, vielleicht sind es nicht einmal Schriftzeichen. In dieser Kurzbeschreibung ist schon das ganze Drama der erschütterten Wahrnehmung angelegt. Entscheidend ist der Rückschlag von “Text“ zu “Schriftzeichen“. Was heißt es, einen Text “zu sehen“? Die definierende Eigenschaft, eine sinnvolle Mitteilung zu enthalten, ist im engen Sinn genausowenig wahrnehmbar, wie Würde in einem Gesichtsausdruck oder Lieblichkeit in einer Melodie. Darauf besteht der Atomismus. Gesehen werden Schriftzeichen, die als Träger einer Textmitteilung fungieren können. Die Physiologie stellt den Kontakt her, Interpretationen besorgen den Rest. Zu Beginn dieses Jahrhunderts ist sowohl bei den Verfechtern der wissenschaftlichen Weltauffassung, als auch in Künstlerkreisen immer wieder von “reinen Farben“, “reinen Tönen“, “reiner empirischer Affektion“ die Rede. Die Fundamentalisten möchten sich von nachträglich über die Sinnesauffassung gestülpten Theorien befreien und nehmen an, so auch die Täuschung los zu werden.

MODERNISMUS. Der Unterschied zwischen sinnlichen Darstellungsmitteln und dargestellten Sachverhalten läuft parallel zu dem von Schriftzeichen und Text. Was heißt es, z.B. eine gemalte Landschaft wiederzuerkennen? Farbmuster müssen als Repräsentation von charakteristischen Zügen eines Weltausschnitts genommen werden. Daß aber eine Kurve “ein Berggipfel ist“ sieht man so wenig, wie Texteigenschaften in Graphemen. Nicht einmal in der Fotografie, die immer wieder als Kunst des unüberbietbaren Realismus betrachtet wurde, erzwingen die Bildmomente eine einzige korrekte Sichtweise. Was ausweglos zutrifft ist ein Schlag in die Magengrube und kein Bild. Eine große Zahl gesellschaftlich determinierter Regeln ist wirksam, bevor das Zeichenmaterial umstandslos auf Bezeichnetes bezogen werden kann. Die Enttäuschung, wenn dieses Substrat einmal nicht in den schon von vornherein gespannten Erwartungshorizont paßt, beweist das indirekt. Und wie der Modernismus in der Literatur darauf abzielte, die angebliche Urwüchsigkeit sprachlicher Mitteilung mit dem Eigenleben der Sprache zu konfrontieren, hat er in der bildenden Kunst die Autonomie des Formeninventars betont. Es ist sein Weg, der Korrumpierbarkeit der Darstellung zu erwidern.

RITUALE DER REINIGUNG. “Die ‚Reinheit‘ der abstrakten Kunst konnte gleichzeitig als wissenschaftliche, religiöse und ethisch-politische Reformation angesehen werden. Das ‚unschuldige Auge‘ des idealen Betrachters war zugleich das unvoreingenommene Auge der Wissenschaft und das geistlich gereinigte Auge der Individuen in einer neuen sozialen Ordnung, die durch eine religiöse Reformation und/oder materielle Revolution hervorgebracht werden sollte. Die Totems dieser neuen religiös/sozialen Ordnung sollten die Malereien selbst sein, die sich schließlich und endlich als die dominante Kunstform einer fortgeschrittenen Kultur herausstellten.“ 1 Wenige Begriffe sind theoretisch so mißbraucht wie “Unschuld“. Diverse Theorien ziehen sich mit Vorliebe auf quasi unverfälschte Territorien zurück, um ihre eigene Entwicklung aus ihnen abzuleiten. Die Reinheit der ästhetischen Mitteilung, die der Literarisierung, dem Historismus und dem Kitsch entgegengesetzt wurde, entsprang hingegen einer ganz besonders anspruchsvollen Theorievorgabe. Zur Unschuld des reinen Farb- oder Toneindruckes muß man sich durch einen schmerzhaften Prozeß erst läutern. “Die Aufmerksamkeit des idealen Betrachters würde nicht durch niedrige sinnliche Reizungen abgelenkt werden, ebensowenig wie das Bewußtsein des Idealbürgers durch private, materielle Gelüste. Die abstrakte Einheit der bildlichen Komposition sollte Aufforderung und Metapher für eine transzendente Einheit des Geistes sein.“2 Wenn dieser Geist beginnt, sich auszudrücken, kann er nicht fehlgehen. Der Skeptizismus wird durch Purismus in Schach gehalten.

DIVERTIMENTO. Das Reinheitsgebot des Modernismus läßt sich nicht halten. Genauer: Es erweist sich seinerseits als äußerst tendenziell. Die Demontage des Ornaments erfüllt selbst ornamentale Zwecke. Eine vergnügliche Demonstration der Aussichtslosigkeit der Berufung auf die Unschuld vor der Sinnverfälschung übernehme ich von einem Freund. “Ich habe bereits in dem Moment, in dem ich mich an meinen PC gesetzt und begonnen habe, auf seinen Tasten herumzuklopfen, unterstellt, daß es eine vernünftige Sache sein könnte, durch allerlei Umtriebe Muster von schwarzen Punkten auf einem Blatt Papier zu erzeugen. Diese Vorgabe hole ich nie wieder ein, und ich gebe auch nicht vor, es zu tun. Wer in diesen Blättern nichts als sonderbare Punktmuster sehen möchte, wäre dazu eingeladen, wenn er diesen Satz lesen könnte.“ (Peter Krall) Wahrnehmung kann nicht von einfachsten Impulsen ausgehen, es sei denn, sie sind schon von vornherein in einen Sinnzusammenhang eingebettet. Schwarze Punkte sind Worte, weil menschliche Verständigung schon vor der Inventaraufnahme ihrer möglichen Vehikel stattfindet. Diese Einsicht bildet zur Zeit einen Konvergenzpunkt zwischen Wissenschaftsphilosophie, Hermeneutik und Ästhetik, die bei voneinander weit entfernten Annahmen über die Beschaffenheit der Sinnestätigkeit begonnen haben. Es lohnt, sie etwas näher zu erläutern.

PROTOKOLLSÄTZE. Die Redewendung “Ich gehe davon aus, daß …“ entspricht einem verbreiteten Bedürfnis, sonst hätte sie sich nicht so durchgesetzt. Sie ist ein typischer Fall von Semi-Permanenz. Die Protokollsätze, mit denen der Wiener Kreis die empirische Bestandaufnahme der Welt beginnen ließ, klingen zwar ähnlich, sollen aber gerade die in der Formulierung enthaltene Unsicherheit beseitigen. Hinter ihnen liegt nichts, von dem allenfalls auch noch auszugehen wäre, sie teilen keinen Entschluß, sondern eine Notwendigkeit mit. “Das ursprüngliche Protokoll darf nur ganz kurze, ganz einfache und unmittelbarster Wahrnehmung entsprechende Äußerungen enthalten, z.B. ‚hier Zeiger auf Fünf‘, ‚dort roter, kurz dauernder Farbfleck‘ usf.“3 Hier sind scheinbar die puren Sinne in Aktion. “Aber selbst ein Wort wie ‚Zeiger‘ sagt schon zu viel. Es dürfte eigentlich nur ein Hinweis auf ein gewisses Bewegliches dastehen, das im Zusammenhang mit anderen, früheren und späteren Aufnahmen als mit ‚Zeiger‘ zu bezeichnendes Ding erkannt wird. … Das richtige Protokoll besteht nur aus einzelnen Hinweisen auf unmittelbar Gegenwärtiges .“4 Der Zeiger soll wie der Text zugunsten der Schwärzungsmuster verschwinden, dann wäre auch die Unsicherheit, über welche die Wendung “angenommen, daß …“ ihre vorläufige Stabilität legt, beseitigt. Die Passage von Mises enthält allerdings schon den Ansatz zur Widerlegung dieses Ideals, denn wenn wir keinen Zeiger zu Grund legen dürfen, dann auch nicht “ein gewisses Bewegliches“. Um zu verstehen, was das sei, sind schon Zahlbegriffe, hinweisende Definition und eine Konzeption von Bewegung erforderlich.

DAS MOTORRAD. Wie Manfred Sommer in seiner Studie zu Ernst Mach gezeigt hat5, schlägt der konsequente Empirismus schließlich in Mystik um. Er kann nur festhalten – nicht einmal sagen – daß sich das Unerfaßbare den Sinnen offenbart. “Fast jeder Satz einer kultivierten Sprache erfordert, falls er in die einfachsten Protokollaussagen zerlegt oder auf sie zurückgeführt werden sollte, ganze Bände von schriftlichen Ausführungen.“6 Und selbst aus ihnen ist das Urerlebnis nicht zu konstruieren. Konturen kann es nur in einer Sprache erhalten, akustische oder graphische Eruptionen reichen dazu nicht aus. Aus diesem Grund organisiert Martin Heidegger in “Sein und Zeit“ das Verhältnis zwischen den Vorgaben und den Sinnesdaten anders herum, nämlich pragmatisch. Daß uns ein Ton oder eine Farbe trifft ist keineswegs der Beginn einer sich nach und nach komplizierenden Geschichte sinnlicher Rezeption. Die Sache ist von Anfang an verwickelt. Der Mensch steckt in einem Geflecht von Sinn- und Sinnesvoraussetzungen, das ihn immer schon eine Zeit lang getragen hat, bis es ihn jählings irgendwo im Stich läßt. “’Zunächst‘ hören wir nie und nimmer Geräusche und Lautkomplexe, sondern den knarrenden Wagen, das Motorrad. … Es bedarf schon einer sehr künstlichen und komplizierten Einstellung, um ein ‚reines Geräusch‘ zu ‚hören‘.7 Die Ausblendung dessen, was wir an “Wissen“ immer schon mitbringen, macht das Verfahren vielleicht “wissenschaftlicher“, doch das ist nur durch einen massiven Schock erklärlich. In ihm stellt sich heraus, daß nicht alles so ist, wie es dem unbefangenen Weltverhältnis erscheint. Es ist nur semi-permanent, der Zweifel an der Verläßlichkeit der Worte und Bilder ist die Folgeerscheinung eines Aus-dem-Rahmen-Fallens. Er steht nicht am Anfang der philosophischen Erörterung, sondern erst in einem späteren Kapitel.

MYTHOLOGICA. Statt das Verhältnis zur Welt in einem minimalen Kontakt zu verankern, sieht Heidegger eine andere Begegnung vor. Welt erscheint als Ganze und zwar gerade dann, wenn ihr Zusammenhalt problematisch wird. Das Mystische ist bei ihm nicht an der Grenze der sinnlichen Gewißheit, sondern an jener Stelle angesiedelt, an der die Selbstverständlichkeit eines praktischen Sinnzusammenhangs gestört wird und kurzfristig die Frage auftaucht, was das alles soll. Am unbrauchbar gewordenen Werkzeug wird die verwickelte Zwecksetzung “sichtbar“, in die es eingebettet war. Kunstwerke haben sich an beiden Varianten der mystischen Erfüllung orientiert. Manche kennzeichnet ein Purismus, der keine etablierten Kulturkodes gelten läßt und den Ausdruck – oft unter Hinweis auf elementare physiologische Gegebenheiten – an die Sache direkt anzukoppeln sucht. Aus “ästhetischen Protokollsätzen“ soll dann eine von überlebten Beigaben gereinigte Kunstwelt aufgebaut werden. Die andere Richtung denkt nicht daran, bei einfachsten Bausteinen zu beginnen. Sie baut einen Zusammenhang, der insgesamt, aus der Opposition gegen andere Kontexte, Schlüßigkeit gewinnt. Ein readymade ist nicht deshalb elementar, weil es einfach gebaut ist, sondern weil seine Einfügung in den Ausstellungsbetrieb an ihm den reinen Kunst-Griff aufleuchten läßt, ähnlich dem Sich-Melden der Welt in der Störung des Gebrauchszusammenhanges. Dieses pure Erscheinen bedarf keiner zusätzlichen schöpferischen Aktivität. Das Spektrum moderner Kunst erstreckt sich vom Versuch, alle Verantwortung für die Treffsicherheit der Ausdrucksmittel zu übernehmen, bis hin zum Gegenzug, sich jeder semantischen Verpflichtung zu entziehen, um den Kontrast zwischen vorgefundenen Welten sprechen zu lassen.

AVANT GARDE. Die Gegenüberstellung von Extrempositionen dient der schnelleren Verständigung, aber sie macht auch eine Gemeinsamkeit der atomistischen und pragmatistischen Bereinigung der Skepsis deutlich. Beiden ist eigentümlich, daß der komplizierte Mechanismus der Sinnlichkeit, der zwischen Personen und ihrer Welt vermittelt, nicht direkt zur Debatte steht. Entweder ist er durch ein Direktverfahren, das ästhetische Gegenstände gleichsam unmittelbar erzeugt, unterlaufen, oder er tritt hinter der Bedeutung des komplexen In-einer-Welt-seins zurück. An die Stelle der Künste, die den Sinnen schmeicheln, und darum Mißtrauen erregen, sind Werke getreten, die theoretische und historische Kenntnisse verlangen, um als ästhetische Gebilde wahrgenommen werden zu können. Der Protest gegen die traditionellen Formen der normal-psychologischen Wirklichkeitskonstitution hat dazu geführt, daß Zeichen der Avantgarde sich gegen ihre eigene Zeichenhaftigkeit kehren. Je prekärer ihr Mitteilungscharakter wird, desto unbedingter versuchen sie, Eindeutigkeit zu etablieren. Das zieht sie in einen Strudel permanenter Anläufe, durch die Verwerfung aller vorangegangenen eine neue Sprache zu erfinden. Theorie, nicht die Welt unserer Sinne, ist der primäre Bezugspunkt dieser Darstellungen. Die gezielte At?tacke auf die Konventionalität der Zeichensetzung führt zur unabschließbaren Suche nach neuen, bisher unerhörten Ausdrucksmöglichkeiten. Das Unsagbare als Maßstab bewirkt jedoch auf Dauer eine Erschöpfung aller verfügbaren Kodes. Im Extremfall dreht sich das Kunstprodukt dann nurmehr im Widerspruch der Verweigerung verständlicher Mitteilung als jenem Inhalt, den es übermitteln soll.

NICHT SO SCHNELL. Ein heimlicher Verdacht der fortschrittlichen Kunstpraxis besagt, daß jede Sprache täuscht und daß mit Bildern immer nur schöner Schein erzeugt wird. Wahrheit läge danach ausschließlich in der Geste der Verwerfung. In der Wissenschaftsphilosophie hat dieser radikalisierte Zweifel mittlerweile zu einer Gegenreaktion geführt. Die Wirklichkeit, die jenseits unserer Annäherungsversuche den dunklen Abgrund bildet, in dem die Kommunikationsversuche zerschellen, ist eine unverständliche Konstruktion. Man kann dem Zeichen nicht die Möglichkeit, Verbindung herzustellen, nehmen und dann noch fragen, was es bedeuten soll. Die Möglichkeit ihrerseits aber beruht darauf, daß wir schon immer eine Welt voraussetzen, sobald wir sinnvoll sprechen. Der tragische Solipsismus, der mit dem Gedanken spielt, Subjekte bzw. Zeichensysteme könnten nie aus ihrem Inneren heraus, ist aus demselben Grund unverständlich, aus dem schwarze Punkte nicht als Buchstaben wahrgenommen werden können, wenn man nicht zu lesen versteht. Die Faszination durch die zunehmend verdünnte Genieästhetik stößt an eine Grenze, wenn die Experimente mit dem Mystischen sich auf die ständige Überreizung einer Grenzsituation beschränken. Die Frage ist dann, woran sich Ästhetik halten soll, wenn Sinnlichkeit allein nicht reicht und Extremismus auf der Stelle tritt. Eine Entwicklung führt wieder auf den Anfangspunkt zurück, auf das Verhältnis, in dem Zeichen und Wahrnehmungen ein nicht komplett verläßliches Bild von der Welt erzeugen.

SINNESWERKZEUGE. Der Blick fällt neuerlich auf die Semi-Permanenz. Wir wissen, daß Mitteilungen zumeist nicht letzte Worte sind, auch wenn sich im Moment keine anderen anbieten. Ähnlich vorläufig geben die Sinnesdaten Aufschluß über die Welt. Was geschieht, wenn man sich angesichts dieser Verhältnisse nicht auf die Suche nach grundlegenderen Garantien begibt und doch das Transitorische der betreffenden Selbstverständlichkeiten nicht übersieht? Heidegger läßt – ohne den Sinnen eine Rolle zuzuerkennen – am Werkzeug die Welt aufscheinen. Warum muß das ein äußeres Gerät sein? Die Wahrnehmungsorgane sind doch ebensolche Stellen, an denen sich die Welt bemerkbar macht, Werkzeuge. Sie versagen ihren Dienst wie Hämmer oder Motorräder, sind aber auch modifizierbar, um veränderten Anforderungen besser zu entsprechen. Trompe-l‘?ils und virtual reality bedienen sich des Grenzfalles der gelungenen (und dennoch nicht perfekten) Täuschung. Er ist mit den besprochenen Radikalismen gut verträglich. Eine weniger zugespitzte, in der Sache aber weiterführende Zugangsweise ist die Arbeit am interface, ohne ein vorgegebenes Ideal von Wirklichkeit, das genau zu treffen wäre. Der Schock des für ein Zeichen konstitutiven Mangels wird nicht zum Antrieb verstärkter Vergewisserung, sondern zu einem selbst kreativ zu bearbeitenden Effekt. Der klassischen Avantgarde schwebte das Ziel vor, Vermittlung möglichst auszuschalten. Das Thema “Sinneswerkzeuge“ weist nicht nur darauf hin, daß sie sich niemals vom menschlichen Wahrnehmungsapparat emanzipieren kann. Es notiert darüber hinaus Projekte, welche gerade die brüchigen Zwischenträger, die Zeichen und die Sinnesreize, zum Ausgangspunkt machen. Ihre Plastizität selbst, nicht die Anpassung an eine Sache, die eine Folge davon ist.

WAHRNEHMUNG ALS KUNST. “Sinneswerkzeuge“ ist kein harmloser Begriff. In ihm klingt an, daß etwas, was Menschen sich als Hilfsmittel zur Bewältigung der Natur konstruieren, auf ihre eigene Ausstattung zurückschlägt. Man kann die Sinne schärfen wie Messer und überfordern wie ein Kugelgelenk. Das ist ein Grund für Heidegger gewesen, seine Fundamentalphilosophie nicht auf ihren Leistungen aufzubauen: als schon vom Technischen überformte Qualitäten lenken sie von der unverstellten Menschlichkeit ab. Reinheit liegt in der Sache, nicht im Instrument. Dementsprechend revisionistisch erscheint die neuerliche Zuwendung zu den Sinnesdaten und den Bedingungen, unter denen sie Welt erschließen. Aber das Geheimnis der Wahrnehmung liegt nicht jenseits von ihr, in mystischen Vergewisserungen, sondern darin, daß sie kein Alles oder Nichts zuläßt und dennoch ständig definitive Resultate produziert. Anders gesagt, sie ist kein metaphysisches, sondern ein ästhetisches Phänomen. In der Erkenntnistheorie wurde sie als Index der Zufallsabhängigkeit unserer kognitiven Errungenschaften betrachtet. Doch ihre Unsicherheit läßt der Philosophie keine Ruhe, sie möchte sie in Theorie aufheben, d.h. aus höheren Notwendigkeiten begründen. Demgegenüber wurde Kunst als niedrigere Form der Wahrheit qualifiziert. Wenn sie sich aber die Leistungen der Sinne in ihrer Fragilität zum Thema macht, fällt sie nicht hinter die weit ausholenden spekulativen Aktionen zurück. Die haben sich zusehends als Leerlauf erwiesen. Die Reichweite der Wahrnehmung zu überreizen ist eine Sache, die andere ist das Experiment an ihrem vergänglichen Kern, am Transformationsprozeß, der Kontingenz in Gültigkeit verwandelt – und vice versa.

HAFT-NOTIZEN. Sonderbar, wie die “removable self-sticking notes“, die “papillons adhesif repositionables“, die “notas de quita y pon“ im Deutschen heißen. Sie geraten unwillkürlich in die Nähe von Gefängnis und Befreiung, Zeichen können krumme Wege einschlagen. Oder haben wir es mit einer Abkürzung auf dem Weg zu einer anderen Sache zu tun? Menschen sind der Welt verhaftet, aber die Haftbedingungen liegen nicht fest. Es bleibt ein Spielraum, sie so zu arrangieren, daß sinnliche Bewegungsfreiheit besteht. Zu weit läßt er sich allerdings nicht treiben, denn radikale Unabhängigkeit ist nur im Kopf zu haben, sie teilt sich weder Sprachsymbolen, noch körperlichen Fähigkeiten mit. Der Enthusiasmus des absolut sauberen Beginns ist am Ende dieses Jahrhunderts abgeklungen. “Es ist so schwer, den Anfang zu finden. Oder besser: Es ist schwer, am Anfang anzufangen. Und nicht zu versuchen, weiter zurückzugehen.“ 8 Weiter zurückgehen hieße, einen Klebezettel zu suchen, der unabtrennbar mit der Klebfläche verbunden ist. Aber was angeheftet werden kann, kann auch gelöst werden. Die Arbeiten, denen dieser Katalog gilt, beginnen in der Mitte des Wahrnehmungsverhältnisses, an Anfängen, die über jeden Zweifel nicht erhaben sind.

Anmerkungen

1 Mitchell, W.T. J.: Ut Pictura Theoria. Abstract Painting and the Repression of Language. In: Critical Inquiry 15 (1989)/2 S.361

2 Crow, Thomas: The Birth and Death of the Viewer. In: Forster, Hal (ed.): Discussions in Contemporary Culture, Seattle 1987, S.3

3 Mises, Richard von: Kleines Lehrbuch des Positivismus. Einführung in die empiristische Wissenschaftsauffassung. Herausgegeben und

eingeleitet von Friedrich Stadler. Frankfurt/Main 1990 (stw 871), S.165

4 a.a.O.

5 Sommer, Manfred: Evidenz im Augenblick. Eine Phänomenologie der reinen Empfindung. Frankfurt/Main 1987

6 Mises S.166

7 Heidegger, Martin: Sein und Zeit. Tübingen 1963, S.163f

8 Wittgenstein, Ludwig: Über Gewißheit § 471