Herbert Hrachovec: Afraid of no Ghost

Tragödien, in denen die Welt noch in Ordnung ist, gipfeln im 3.Akt; der vierte zeigt den Fall des Helden. ,,Hamlet„ paßt nicht ins Muster. Es dauert bis in den 4.Akt hinein, daß sich der Prinz aufschwingt und zu den Waffen greift. Und dabei muß er sich noch künstlich in kriegerische Stimmung bringen.

Jacques Derridas Hommage an Marx beginnt und schließt mit ,,Hamlet„. Auch in diesem Drama ist der Prinz zu spät dran. ,,Ich glaube an die politische Tugend der Unzeitigkeit. Und wenn etwas Unzeitiges nicht die mehr oder weniger kalkulierte Chance hat, gerade zur rechten Zeit zu kommen, dann kann das Unzweckmäßige einer (politischen oder sonstigen) Strategie immer noch zeugen von der Gerechtigkeit …„. Ein Zeugnis, das Derrida in zwei sehr unterschiedlichen Formen ablegt.

Die eine Strategie, die einen Großteil des Buches einnimmt, ist bissige, brilliante und breitspurige Polemik gegen den Zeitgeist in puncto Karl Marx. Mit unverhohlenem Triumphton haben Kommentatoren ihn zweimal und öfter sterben lassen. ,,Aber der wirksame Exorzismus gibt sich den Anschein, den Tod festzustellen, nur um zu töten. Er stellt den Tod fest wie ein Gerichtsmediziner, aber hier geschieht das, um den Tod zu geben. Diese Taktik kennt man.„ Sie verbreitet sich, seit von Philosophen verlangt wird, beim Fall der Mauern und der Bomben live auf Sendung zu sein.

So klug sind Theoretiker nicht, daß sie sich – die Medienregie im Rücken – den Plattheiten derartiger Augenblicke entziehen könnten. ,,Kurz und gut, es handelt sich oft darum, dort den Tod vorgeblich nur festzustellen, wo die Sterbeurkunde der Performativ einer Kriegserklärung ist oder die ohnmächtige Gebärde, der unruhige Traum einer Tötung.„ Derrida hat sich einem solchen aggressiven Konformismus auf eindrucksvolle Weise entzogen. Er liest ,,Hamlet„. Dort erscheint zu Beginn bekanntlich ein Gespenst. Eine Geistererscheinung ist alles andere, als eindeutig. Von ihr aus rollt Derrida die ,,neue Weltordnung„ nach dem Ende des kalten Krieges auf.

,,Welchen Modus der Präsenz hat ein Gespenst? Das ist die einzige Frage, die wir hier stellen wollen.„ Ein Gespenst – ein Geist – entzieht sich der Fixierung auf vergangen, gegenwärtig, künftig. Es irritiert, weil es die Absperrungen zwischen den Zeiten ignoriert. Ein toter König kehrt wieder und spricht von Ereignissen, die in der Zukunft liegen müßten. – Ist doch alles nicht wahr! – Na sicher, es ist unglaublich; gerade das Gegenteil der Versessenheit auf klare Grenzen hier und jetzt. ,,Theoretiker oder Zeugen, Zuschauer, Beobachter, Gelehrte und Intellektuelle – die scholars glauben stets, es genüge, zuzusehen.„ Dagegen Derrida: Wir sollten zum Gespenst sprechen. Etwas weniger theatralisch formuliert: uns auf den unabgegoltenen Rest von Menschenleben einlassen.

Zu diesem Zweck rührt Derrida seitenlang in verschiedenartigen Texten (Shakespeare, Marx, Stirner, Blanchot, Fukuyama). Das ist nicht mein Fall. Doch mitunter formuliert er atemberaubend scharfe Attacken. Nicht zufällig hängen sie oft an der zweiten Strategie seiner Zeugenschaft, einer Art metaphysischer Generalmobilmachung. Dazu ein Beispiel. ,,Laßt die Toten ihre Toten begraben!„ ist die Devise der unbekümmerten Fortschrittsfraktion, die den historischen Marx selbst mit einschließt. Derrida: ,,Das hat keinen Sinn, es ist unmöglich. Nur Sterbliche, nur Lebende, die keine lebenden Götter sind, können die Toten begraben.„ In diesem Kontext heißt das: ihr Erbe übernehmen. Sich um den Inhalt des Vergangenen sorgen, statt ihn wegzupacken, oder zwanghaft dem Exorzismus zu unterwerfen. Das ist der Anlauf, jetzt kommt der Sprung.

Das Unmögliche ist denkbar, tote Totengräber. Lebende, die diese Bezeichnung nicht verdienen, weil ihr Verhältnis zur Zeit abgestorben ist. ,,Was ist der Mensch/Wenn seiner Zeit Gewinn, sein höchstes Gut/Nur Schlaf und Essen ist? Ein Vieh, nichts weiter, …„ (Hamlet IV, 4). In Derridas Buch über die Gasöfen war das Stichwort Asche. Sie ist der Rückstand, der keine Form mehr halten kann. Auch am Ende des Marx-Buches taucht sie auf: ,,Daß das Grund-lose dieses Unmöglichen trotzdem stattfinden kann, das ist im Gegensatz dazu der Untergang oder die absolute Asche, die Drohung, die es zu denken und, warum nicht, noch einmal auszutreiben gilt.„

Der Exorzismus der unfaßbaren Bedrohung, für den Derrida hier eintritt, kann nicht mit Mitteln der Verdrängung arbeiten. Er muß die Geister sachgerecht heraufbeschwören, damit die Welt sieht, was es mit ihnen auf sich hat, und wie man sie – als Spukgestalten – anerkennt und besänftigt. ,,Nicht, um ihnen in diesem Sinne Recht wiederfahren zu lassen, sondern aus Sorge um die Gerechtigkeit.„ Die Geistergeschichten, die Derrida erzählt, sind, inmitten zahlreicher Ablenkungsmanöver, hin und wieder auf’s Äußerste zugespitzt. Unversehens wird Marx zur Figur des ,,Messianismus der Wüste„, ein Verkünder unfaßbarer Gerechtigkeit.

Vorsicht mit solchen Worten. Kaum daß Derrida sie hingeschrieben hat, zieht er sie zurück. ,,Messianismus der Wüste (ohne Inhalt und ohne identifizierbaren Messias)„ und auch die Wüste ist natürlich nicht normal, sondern die ,,Wüste der Wüste„. Dekonstruktion ist ein patentiertes Verfahren, den Rücken beim Waschen trocken zu halten. Darum kann trotz ihrer Unmöglichkeit die Rede sein von ,,der Ankunft des anderen, der absoluten und nicht antizipierbaren Singularität des Ankünftigen als Gerechtigkeit. Dieses Messianische bleibt, so glauben wir, ein unauslöschliches Kennzeichen des Marxschen Erbes – ein Kennzeichen, das weder ausgelöscht werden kann noch darf – und zweifellos auch ein Kennzeichen des Erbes, der Erfahrung des Erbes im allgemeinen.„ Scharf aufgespießt sagen diese Wendungen: Marx ist ein Prophet. Derrida tut, was er kann, um daraus denkerisch Gewinn zu ziehen.

Der Jammer mit Propheten ist, daß sie Glauben fordern. Sie sind viel interessanter, als die Eindeutigkeit, zu der sie aufrufen. Derrida leistet sich den Luxus, ohne Glauben zu predigen. ,,Das ist der Grund, warum eine solche Dekonstruktion nie marxistisch gewesen ist, ebensowenig wie nicht-marxistisch, obwohl sie einem gewissen Geist des Marxismus treu geblieben ist …„. Immer wieder dasselbe Geduldspiel, harmlos und impertinent in Einem. Wie wichtig ist ein solches Bekenntnis? Das läßt sich nur beurteilen, wenn man einen Blick auf den bisherigen Verlauf des Projektes wirft. Kürzlich sind zwei zentrale Aufsatzsammlungen, ,,Dissemination„ und ,,Gestade„ aus den Jahren 1972 und 1986 erstmals integral in deutsch erschienen.

Besäßen diese Bände ein Register, ,,Marx„ würde dort, soviel ich sehe, fehlen. Die Arbeiten, von denen viele mittlerweile klassisch geworden sind, handeln von Platon, Hegel, Mallarmé und Blanchot. Das schließt nicht aus, daß sie ,,im Geiste des Marxismus„ verfaßt sein könnten. Andererseits: Es empfiehlt sich nicht, Derrida beim Wort zu nehmen. Seine Texte halten die Mitte zwischen punktgenauer Kompaktheit und Zersteuung. In der Nacherzählung geht das sofort verloren. Jeder, der aus ,,Marx‘ Gespenster„ einen Marxismus Derridas herausliest, macht sich lächerlich.

In den Aufsatzbänden sieht man die Dekonstruktion bei der Arbeit. Im Marx-Buch werden die Fragen aufgeworfen, ob diese Arbeit den Marxismus zum Vorbild nehmen kann und/oder ob sie ihn für sich verdaut. Gespenster, aber auch das Einverleiben einer Mahlzeit, sind schaurig-schön.

Jacques Derrida: Marx‘ Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale. Aus dem Französischen von Susanne Lüdemann. Frankfurt/Main 1995. 283 S. Fischer Taschenbuch Verlag
ders.: Gestade. Aus dem Französischen von Monika Buchgeister und Hans-Walter Schmidt. Wien 1994. 299 S. Passagen Verlag
ders.: Dissemination. Aus dem Französischen von Hans-Dieter Gondek. Wien 1995. 461 S. Passagen Verlag
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Sun Sep 1 10:10:17 MET DST 1996
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