Herbert Hrachovec: Schattenseiten und Halbwahrheiten

Natürlich spielen beide mit gezinkten Karten. Das ,,Profil„ veröffentlicht Unterlagen, über die es seit längerem verfügt, zum optimalen Zeitpunkt. Kardinal Groër im Ruhestand gibt nicht soviel Publicity. Manche Kirchenmänner, die entrüstet protestieren, wissen es besser. Groërs auffallendes Interesse für Knaben in der Hollabrunner Zeit ist in diesen Kreisen ein offenes Geheimnis. Beide Seiten haben ihre Gründe, Halbwahrheiten zu verkünden. Das Thema reißt unübersehbar viele Fragen auf, von der psychischen Beschädigung einer Person bis zur Weltpolitik Papst Johannes Paul II. Ich kann einige Fakten zur besseren Beurteilung der umstrittenen Sache beisteuern.

Dr. Groër hat mir mehrere Jahre hindurch unerwünschte Zärtlichkeiten aufgedrängt. Die Umstände waren dieselben, die Josef Hartmann beschreibt. Innerhalb der Konstruktion eines ,,geistlichen Führers„ und Beichtvaters war reichlich Gelegenheit, die verklemmte Sexualität des Schülers auszuhorchen und mit Hilfe des Sündenkatalogs zu manipulieren, um daraus ein brünstiges Schauspiel zu gewinnen. Die körperlichen Intimitäten endeten in meinem Fall bei langen Umarmungen, in denen offensichtlich mehr erwartet wurde. Einmal das Angebot von Massage und eine beinahe gewaltsame Zudringlichkeit. Das im ,,Profil„ dokumentierte Muster ist völlig glaubhaft. Ohne Kenntnis der Details im präsentierten Einzelfall zweifle ich nicht an der Richtigkeit der Darstellung Hartmanns.

Es ist möglich, mit Tatsachen zu lügen. Fakten sind immer in Kontexte eingebettet und ändern ihr Aussehen bei unterschiedlicher Beleuchtung. Einige Angaben zur Stellung Dr. Groërs in der Provinzstadt der 60-er Jahre ergänzen das Bild des Geschehenen. Man kann ihn Querkopf oder einen bunten Vogel nennen. Im Dauerkonflikt mit dem lokalen Pfarrer, der Leitung des Gymnasiums, der Redaktion der ,,Heimatzeitung„ und der Hollabrunner Schickeria stach er als parfümiertes, intellektuelles, alt-österreichisches Faktotum heraus; eine Romanfigur zwischen Doderer und Herzmanovsky-Orlando. Sein Auftreten sprengte den öden Horizont der Etablierten. Ich fand das faszinierend.

Unerschöpflich wie die Provokationen war Groërs Energie in der Organisation von Gegenwelten unter seiner geistlichen Kontrolle. Er führte Sonntag vormittags ein ,,open house„, gründete Gruppen von Pfadfindern und der Legio Mariae. Seine Idee war es, im erzbischöflichen Knabenseminar ein Aufbaugymnasium zum Einstieg in den 2. Bildungsweg einzurichten. Das ganze krönte er mit der Erfindung der Wallfahrt nach Maria Roggendorf, inklusive Errichtung eines Frauenklosters. Ein gnädiges Schicksal hätte ihn dort als Wallfahrtsdirektor alt werden lassen. Die Schattenseite seiner Existenz wäre vermutlich nicht ans Licht gekommen. Im Weinviertel war er eine bemerkenswerte Persönlichkeit, als Kardinal von Wien eine blanke Katastrophe.

Ich schrieb von unerwünschten Zärtlichkeiten. Auch das ist nur bedingt wahr. Im Tagebuch der damaligen Zeit finden sich mehrere von Dr. Groër begeisterte Eintragungen und keine einzige, die den leichten Ekel beschreibt, dessen ich mich entsinne. Der persönliche Grund, sich in die Debatte einzumischen, liegt darin: Mir ist klar geworden, daß die unausgegorene Mischung von Faszination und verkorkstem Körperkontakt Methode hat und Langzeitfolgen nach sich zieht. In meinem Urteil brachte die (heute würde ich sagen: falsch gepolte) oppositionelle Energie mehr, als die Schmierigkeit nehmen konnte. Doch das Problem hat eine über die Individualgeschichte hinausgehende Seite.

Die Überblendung von geistig-emotionaler Bewunderung und körperlichem Abscheu ist typisch für Szenarien des Mißbrauchs. Als Eingriff in die persönliche Integrität innerhalb eines Abhängigkeitsverhältnisses bewirkt er eine tiefe Ambivalenz. Die Liebe der Mißbrauchten spaltet sich in Idealisierung und Leibfeindlichkeit. Dem Herrn gehört die Seele, der Körper dem Widersacher. Das ist seit Jahrhunderten Kirchendoktrin und kein Grund zur Verwunderung. So kommt es, daß ein Herr sich vor der Veteufelung des Körpers noch etwas daran gütlich tut. Aus heutiger Sicht würde ich sagen: ein armes Schwein.

Das unverzeihliche Verhalten des jetzigen Kardinals enthält ein Körnchen Wahrheit. Befreiung aus den engen Kreisen des Provinzialismus erfordert irreguläre Mittel. Es ist fast schon wieder witzig, daß die kirchlichen Würdenträger, die unablässig vom Schutz des Lebens, der Kinder und der Familie sprechen, dem Lüstling die Mauer machen. Ich empfand sein Wirken damals hilfreicher als alles, was die katholische Aktion zu bieten hatte. Unfriede seiner Masche.

hh
Sun Sep 1 10:11:57 MET DST 1996