Herbert Hrachovec: Zum Seilbahnunglück in Kaprun

Staatstrauer kann nicht von der Zahl der Opfer abhängen. Es ist vorstellbar, daß sie dem Tod einer Einzelperson gilt und unvorstellbar, eine Ziffer festzulegen, ab der sie obligatorisch wird. Formal gesehen wird sie von befugten Instanzen angeordnet, ein bürokratischer Vorgang, wie eine Zivilschutzübung. Offenbar reichen solche Äußerlichkeiten nicht, um die Qualität der kollektiven Betroffenheit zu erfassen, die das Land gegenwärtig in Bann hält.

Es hilft, bescheidener zu fragen: Was ist der Unterschied zwischen dem aktuellen Zustand und der Reaktion auf andere Katastrophen, die noch im Gedächtnis sind? Wie gesagt: die Zahlen können es nicht sein. Dann drängt sich eine Beobachtung auf, die das Ereignis in einen Zusammenhang mit dem politischen Klima rückt. Weder die Gefahren der Natur, noch diejenigen der Technik, haben direkt mit dem Staat zu tun. Beim Lawinenabgang oder beim Grubenunglück verhielt sich die politische Führung als Repräsentant der geschockten Bevölkerung. Die Ausrufung der Staatstrauer bringt eine Zusatzqualität.

Die Politik bestimmt, daß diese Trauer alle angeht. Unter verschiedenen Umständen ist das ganz normal: wenn das amtierende Staatsoberhaupt stirbt oder eine Raumfähre explodiert. Das liegt daran, daß es sich in solchen Fällen um von vornherein national-staatlich besetzte Akteure handelt. Die Frage nach dem Spezifikum des Umgangs mit dem Unglück in Kaprun spitzt sich zu: Was hat diese Katastrophe, das vergleichbar niederschmetternde Ereignisse nicht hatten?

Sie eignet sich zur Herstellung nationaler Identität. Indem die Verantwortlichen einen Staatsakt dekretieren, kanalisieren sie eine Welle emotionaler Energie zum Antrieb für die Führung ihrer Amtsgeschäfte. Vielleicht läßt sich der Zwiespalt so verdeutlichen: Die Toten dieses Tunnelbrandes werden keine posthumen Orden erhalten. Das hieße, daß sie zum Nutzen des Gemeinwesens umgekommen sind. Ihr Schicksal ist nicht weniger schrecklich, dennoch paßt es nicht in das Muster. Wer von einem Unglück dieses Ausmaßes nicht erschüttert wird, ist gefühlskalt; wer sich gegen die Staatstrauer ausspricht, ist ein schlechter Österreicher.

Es herrscht die Politik der Gefühle. Menschen erregen sich und handeln emotional, damit müssen die Volksvertreter natürlich rechnen. Aber die Phrase „In dieser Situation sind wir alle zutiefst erschüttert“ kippt leicht zur Drohung. Was sind die Katastrophen, denen die Anteilnahme des Landes gelten soll? Derzeit entscheidet darüber das Fernsehen. Es sind abrupte, singuläre Zwischenfälle, die sich gut in Sondersendungen präsentieren lassen. Mindestens so erschütternd sind strukturelle Mißstände und institutionalisierte Ungerechtigkeit. Doch das ist nicht der Typus von Problem, dessentwegen Staatstrauer am Programm steht.

Als Kontrapunkt gegen die Verarbeitung der Katastrophe in den Medien hier noch eine Erinnerung an Bilder, die Tod als Gesellschaftsfaktor darstellen, ohne zur Regierungstreue zu animieren. Otto Neurath, der große Wiener Sozialwissenschaftler, hat in seiner Bildstatistik demonstriert, was an Naturabläufen Menschenwerk ist und daß der Staat andere Aufgaben hat, als sich zur Gegenzeichnung der Sensationsberichterstattung bereit zu finden. Ein Schaubild, das die Einkommensgewinne durch die Gletscherbahn in ein Verhältnis zum Personen- und Sachschaden in der Region setzt, fehlt bisher.