Herbert Hrachovec: Bildverarbeitung, Thema Wittgenstein ,,Das ist alles nur Text, gibt es keine Bilder„ meinte der Kameramann des ORF, als ich dem Aufnahmeteam die on-line zugänglichen Nachlaßschriften Ludwig Wittgensteins vorführte. Tatsächlich haben die Herausgeber nicht daran gedacht, den tausenden Manuskriptseiten ein Wittgensteinporträt voranzustellen, das kurz und bündig einen Erinnerungseffekt auslöst. Zu diesem Zweck mußte ich mehrere Seiten durch das WWW klicken. Nach kurzer Suche war das Ziel erreicht: ein Foto des Philosophen als Identifikationsanker am Kopf eines einschlägigen Informationsdepots. Die Ausstellung zum 100. Todestag Friedrich Nietzsches im Schillermuseum Weimar präsentiert etwa 50 Abbildungen Nietzsches. Aber für die Zwecke von Verlegern, Wissenschaftsmoderatorinnen und Kameramännern sind es bestenfalls 20 Bilder. Die anderen ,,sind nicht Nietzsche„ in dem Sinn, daß die Klientele sie nicht als diese Person erkennt. Angenommen, ich hätte aus dem Familienbesitz der Wittgensteins ein bisher unbekanntes Foto vorweisen können. Dem ORF hätte es an dieser Stelle nichts genutzt. In der beschränkten Zeit, die für das Feature zur Verfügung steht, muß rasch das richtige Signal gesendet werden. ,,Der andere Wittgenstein„ steht diesmal nicht am Programm. Bildung bedeutet unter dem Einfluß der Massenmedien, daß Philosophen der Öffentlichkeit wie Filmstars bekannt gemacht werden. Die wenigen etablierten Wittgensteinfotos zirkulieren in diversen Designs zwischen Prospekten, Plakaten und Presseaussendungen. Wittgenstein, der alles andere als ein gesellschaftskritischer Philosoph war, ist dennoch auf weite Strecken subversiv. Zum Identifikationseffekt bemerkt er: ,,Wenn Du Dir z.B. Namen wie Schubert, Haydn, Mozart, sagst und Dir dabei die Gesichter dieser Männer vorstellst, so kann es Dir so vorkommen, als ob jene Namen der richtige Ausdruck für diese Gesichtszüge wären; daß etwa mit dem Namen Schubert dieses Gesicht richtig beschrieben sei.„ Er hat nicht damit gerechnet, daß ihm das selbst passiert, aber das Phänomen beschäftigt ihn: der Kurzschluß zwischen Sprachelementen und visuellen Reizen. Der heikle Punkt der Koppelung besteht darin, daß Sprache eigene Wege gehen kann und durch den Anblick einer Ikone am Fortschreiten gehindert wird. ,,Wittgenstein„ als Name verweist auf Gedanken, die er entwickelt hat; ein Wittgensteinbild fixiert den Namen auf eine Ansicht. Man kann es böse sagen: das Bild des Philosophen verweist unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht auf die Person, sondern auf die Medienkompetenz der Betroffenen. Mit Philosphie hat es nichts zu tun. Die Studentenbibliothek des Trinity College, Cambridge zierte in den 70-er Jahren eine polemische Fotoserie. Neben Porträts von G.E.Moore und B. Russell war eine Tafel ohne Wittgensteins Bild angebracht; stattdessen ein Zitat: Wittgenstein sei der Überzeugung gewesen, das Aussehen eines Menschen hätte mit seinem Denken nichts zu tun. Da haben übereifrige Schüler den Meister in kritischem Bewußtsein übertrumpfen wollen. Ihre Intervention führt in Richtung des gleichermaßen besorgten, wie snobistischen Einspruches gegen den nivellierenden Charakter der Medien. Wittgenstein selber ist subtiler subversiv. An der Stelle zu Schubert, Haydn und Mozart ist es gut abzulesen. Er sieht den Effekt und will ihn nicht entlarven. Gesellschaftliches Training führt dazu, daß die sozialisierten Personen sich soetwas wie bedingte visuelle Reflexe angewöhnen. Ist das bedauerlich? – Das ist damit noch nicht gesagt. Fremd in Kalkutta bin ich auf ikonische Hinweise angewiesen. – Aber es ist doch sicherlich ein Mißstand, daß solche kürzelhafte Verständigungsweisen überall um sich greifen und diskretere Zugänge verdrängen. – Achtung! sagt Wittgenstein. Willst Du die Welt wahrnehmen, oder über sie herziehen? Zu seinen eindrucksvollsten Leistungen gehört der Nachweis, daß man nicht zwischen Positivismus und Gesellschaftskritik wählen muß. Wittgenstein beläßt es nicht beim Schubert-Haydn-Mozart-(Wittgenstein)-Blickfang. Wenige Zeilen weiter folgt einer seiner genialsten Aphorismen: ,,Wenn ich beschreiben will, wie ein Gegenstand aus der Ferne ausschaut, so wird diese Beschreibung dadurch nicht genauer, daß ich sage, was ich bei der Betrachtung aus der Nähe an ihm sehe.„ Wer sich sofort über den visuellen Reflex entrüstet, gleicht dem Wanderer, der die Fernsicht auf einen Gebirgszug für unzureichend hält. Für manche Zwecke ist sie ein vorläufiger Behelf, das ist aber kein Grund, sie für andere abzuwerten. Es ist nicht fraglos selbstverständlich, daß die eingehende Kenntnis der Schriften des porträtierten Philosophen besser ist, als der Oberflächenreflex. In einer solchen Attitüde steckt Bildungsdünkel, wie im Überlegenheitsgehaben der Bergsteiger gegen Halbschuhtouristen. Erst wenn das abgewehrt ist, entsteht Platz für eine weitere Frage: Was ist der Vorteil, die Sache näher zu betrachten? Wittgenstein hatte die Angewohnheit, Bemerkungen aus Notizheften in große Schreibbücher zu übertragen, sie daraus zu diktieren und die Typoskripte neuerlich zu überarbeiten. Die Bücher kaufte er in Wien, Cambridge oder Bergen. Ein Band aus dem Jahr 1931 ,,weist keine Beschriftung auf. Spiegel und Vorsatz sind aus lindgrünem, glatten Papier, der Schnitt ist grün. Vorderer Spiegel mit einer einer aufgeklebten, kreisrunden, hellgrünen Firmenvignette.„ (M. Nedo) Das Geschäftszeichen einer Firma Greisinger aus St.Pölten. Wie kommt Wittgenstein dorthin? Hat er Verwandte auf der Hochreith besucht? Mit der Mariazellerbahn? Die Vignette paßt vor seine Gedanken: plakativ und beziehungslos, doch wenn man genauer hinsieht mit der Skizze eines leeren Buches.