Herbert Hrachovec: Einquartiert

Menschengedenken. Um Gottes willen, was soll das für ein Anfang werden? Macht nichts, zweiter Versuch. Seit Menschengedenken war das Areal des Messepalastes im 6. Bezirk eine etwas verwahrloste, leicht ramponierte Stadtlandschaft. Seit vielen Jahren hat sie Veranstaltungen der Wiener Festwochen einen eigentümlichen Charme verliehen. Ad hoc aufgebaute Zelte, in denen Sekt ausgeschenkt wurde; die Hochkultur mußte nach dem Gewitter durch die Pfützen stapfen; Stoffplanen über abbruchreifen Fassaden.

Diese Zustände sind vorbei. Der Ort, an dem ein exquisites Kulturprogramm auf eine desolate Architektur gestoßen war, wird in Vergessenheit geraten. Die Hochglanzbroschüre, die das Management des Museumsquartiers verschickt, definiert es als pulsierendes Energiezentrum inmitten farbig-alternativer lokaler Biotope. Im Mittelpunkt steht der Tourismus vor edlem Hintergrund. Geschichte gibt es auf der vorletzten Seite. Sechs Jahreszahlen, ein Kaiser, vier Architekten und eine Errichtungs- und Betriebsgesellschaft. Was sagt man jemandem, der dazu rät, die Erinnerung an die unordentlichen Zeiten fallen zu lassen?

Eine Antwort: Ach hättet ihr auf dem Gelände doch wirklich gründlich aufgeräumt! Die alte Front, die jetzt herumsteht, ist eine entbehrliche Attrappe. Sie wird von zwei Kästen flankiert, die aussehen, als hätte eine Versicherungsgesellschaft gegen Kunstraub die Jury beschickt. Der freie Platz vor den Kübeln ist das Gegenteil von offenem Raum; die Reminiszenzen verbauen eine großzügige Lösung. Die Reithalle ist als Theatersaal denkbar ungeeignet. Vor den Zugängen stauen sich Menschenschlangen. Wenn schon neu, dann bitte konsequent.

Diese Antwort ist natürlich ein Sakrileg. Es galt, historische Bausubstanz zu erhalten. Wien lebt unter anderem von der Ringstraßenarchitektur. Also ist ein Kompromiß nötig; Bauwerke kann man nicht nach Belieben beseitigen. Die ersten Worte der erwähnten Hochglanzbroschüre lauten: „Hier passiert es …“. Wir sind in der Gegenwart angekommen, sehr schön, aber was ist mit den Erinnerungsstücken passiert? Die bilden jetzt eine pittoreske Szenerie. Was Du nicht beseitigen kannst, sollst Du zum Ausstellungsobjekt machen. Es ist, im Interesse des Seelenfriedens, empfehlenswert, sich mit der Transformation von Ruinen zu Erlebnisräumen zu arrangieren.

Der Punkt am Anfang war allerdings, daß die abgetakelten Gemäuer des früheren Messepalastes „seit Menschengedenken“ ein sehr spezifisches Leben unterstützten. Die kulturellen Funktionen waren in eine Umgebung mit retardierendem Rhythmus hineingebastelt. Das provisorische Gerüst der Zusehertribüne, das von der behübschten Fixinstallation abgelöst wurde, hielt einen Zeithorizont offen. Jetzt haben wir eine zeitgemäß ausgestopfte Halle mit Stukkatur. Sentimentale Rückblicke sind ärgerlich und verdienen, daß man ihnen die Grundlage entzieht. Das Problem ist nur, daß die „Form gewordene Vision eines Kulturviertels der Superlative“ Geschichte einschließt, die sie nicht erschließt.

Dazu hätte der Bauplan sich auf die Qualitäten der Improvisation beziehen müssen, von denen das Areal gelebt hat. Stattdessen hat die österreichische Kunst ein festes Heim gefunden und wir können auf einen Kulturkomplex von Weltgeltung stolz sein. Die Globalisierung verwandelt Lebenswelten in Schaufenster. In Österreich geprägte Euro-Münzen ziert die Almrose und der Stephansdom. Es tut kaum noch weh, aber es verheilt nicht.