Herbert Hrachovec: Selbstbedienungsladen Internet?

Prägnante Namen für Internet-Domänen werden knapp. Im Herbst 1999 hat mir ein Geschäftsmann die Bezeichnung ,,philosophie.at“ vor der Nase weggeschnappt. Mein Webserver läuft seither unter ,,philo.at“, ebenso die Mailing List ,,register“, philosophische Informationen für den deutschsprachigen Raum. Das ergab folgendes Problem: Sollte ich dort eine Notiz über die ,,Konkurrenz“ verbreiten?

Inhaltlich war es keine Schwierigkeit. Der steirische Unternehmer präsentiert — in werbewirksamem Web-Design — Verpackung ohne Inhalt; die Wiener Seiten tendieren zum Gegenteil: in schlichter Aufmachung Philosophie in Arbeit. Eine Frage des Stils: Informieren? Nicht einmal ignorieren? Polemisieren? Ich verschickte eine sorgfältig formulierte Ankündigung. Zwei Absätze stellten das Projekt vor, ein dritter ließ meine Parteilichkeit und die Kritik erkennen.

So weit, so gut, aber es handelt sich um Kommunikation im Internet. Die E-Mails, welche die Subskribenten von ,,register“ erhalten, sind gratis und in gewisser Weise so herrenlos wie eine Postwurfsendung. So sieht das jedenfalls jener Kollege, der seit längerem Nachrichten aus ,,register“, mit anderen Neuigkeiten vermischt, ohne Quellenangabe an einen kleinen Kreis von Interessenten schickt. Meinetwegen; Information ist frei. Wer wird so kleinlich sein und angesichts des epochalen Innovationsschubs auf Herkunftsnachweisen insistieren?

Dieses eine Mal fand ich es trotzdem ärgerlich. Nicht nur, daß der Kollege die Mitteilung wörtlich übernahm — den dritten Absatz hatte er gestrichen. Wollte man es theatralisch sagen: eine doppelte Kastration. Erstens die Enteigung des Beitrags durch das Wegschneiden des Namens und zusätzlich die Verstümmelung des damit herkunftslosen Stücks. Der eine Einschnitt bedingt den anderen. Texte, in denen ein Subjekt spricht, sind umzuschreiben, wenn die Unterschrift gekappt wird. Darin unterscheiden sie sich von Plakaten.

Die kleine Episode berührt im Moment fließende Übergänge zwischen Netiquette, Copyright und Konsumentenschutz. Die Illustration dieser Zusammenhänge bedürfte eines ernsthafteren Beispiels. Ein Aspekt wird allerdings auch an Hand des genannten Beispiels deutlich. Die Produktion von Texten, Bildern und Tönen gerät durch die Möglichkeiten des Internets in eine veränderte Situation. Es bedarf eines einzigen Befehls, um in kürzester Zeit die letzten Jahrgänge on-line verfügbarer Journale rekursiv auf die eigene Festplatte zu speichern. Die literaturwissenschaftliche Textkritik hat ein neues Anwendungsgebiet gefunden. Programme untersuchen, welche Passagen einer Diplomarbeit unausgewiesen aus elektronisch verfügbaren Quellen entnommen sind.

Instinktiv sind viele Beteiligte usicher. Das Internet läßt sich als riesiger Steinbruch betrachten; wie Ruinen aus der Glanzzeit des römischen Reiches, die im Mittelalter Material für Häuser lieferten. Andererseits ist die Vorstellung, das Kolosseum hätte sich zur Gänze in Wohnbauten aufgelöst, nicht gerade attraktiv. Das Bedürfnis nach ,,Architekturdenkmälern“ bzw. ,,berühmten Schriftstellerinnen“ scheint in demselben Maß zu steigen, in dem die Hemmschwelle gegen Plagiate fällt. Die Rechtsabteilung und der Verkauf werden das anders sehen, doch für bewegliche Autoren ist es ein Erfolg, plagiiert zu werden.

Was ist ein verschwundener Absatz gegen die Einträge in der Konfigurationsdatei des Mail-Servers, der eine solche digitale Selbstbedienung erst ermöglicht?