Herbert Hrachovec: Das andere Radioprogramm Gestern ging mein erster Webradio-Server (versuchsweise) in Betrieb. Seit einem halben Jahr produziert eine Gruppe von Philosophinnen und Philosophen im freien Radio (Wien 94.0, Radio Orange) eine Sendereihe, die sich, im Gegensatz zum ORF, nicht an den Kult der großen Denker und ihrer medienbefliessenen Propheten hält. Diesen Kulturklotz kann man in einer doppelten Ausweichbewegung umgehen. Die Fachleute gestalten ihre Präsentationen in uneingeschränkter Eigenverantwortung, müssen dafür allerdings auf das große Publikum verzichten. Dieses Defizit hebt das Webradio — zumindestens im Ansatz — auf. Über das Internet lassen sich die sorgfältig gestalteten Sendungen am Medienoligopol vorbei in die ganze Welt verbreiten. Für einen digitalen Freizeit-Bastler ist der Moment atemberaubend. Nach der Kompilierung des Servers, dem Studium der Hilfetexte und dem trial-and-error-Verfahren der Konfiguration ertönt plötzlich das gewünschte Tondokument. Das ist die oberflächliche Beschreibung; der lustvolle Schock geht tiefer. Es handelt sich ja nicht bloß darum, ein digitalisiertes Audiofile abzuspielen. Das Sensationelle ist die Infrastruktur: dieses Dokument ist Teil eines Radioprogramms, das seine Zuhörerinnen global erreicht und völlig von einer Person kontrolliert werden kann. Ärgerlich sind viele uninformative, zusammengewürfelte Sendungen in Rundfunk und Fernsehen. Hier ist eine Abhilfe: das selbstgemachte Radio. Aus solchen Konstellationen entstehen enthusiastische Bücher, die eine umwerfend neue Zukunft vorhersagen. Sie provozieren skeptische Gegenargumente, die vor übertriebenen Erwartungen warnen. Der entscheidende Punkt liegt jedoch vor der Auseinandersetzung zwischen Enthusiasmus und Skepsis. Er läßt sich mit dem Radiobeispiel gut belegen, gilt aber für viele ähnlich gelagerte Fälle. Die Sache beruht auf einem inhaltlichen Knick. Eine Gedankenkette verbindet die Geschichte der Massenmedien — die staatlichen Sendeanstalten — die konventionellen Empfangsgeräte — die Rundfunkgebühren. Die zweite betrifft Computer — Soundkarten — das Internetprotokoll — den Serverbetrieb. Zwischen den Gedankenketten springt ein Wort über. Der Transfer von Audiodaten heißt auf einmal Radio. Ein prickelndes Gefühl. Es ist mehr als ein Prickeln und darin liegt das Produktive, ebenso wie das Verführerische, solcher Knickpunkte. Im Moment der Übertragung wird unwillkürlich die herkömmliche Rundfunkpraxis in den neuen Kontext mitgenommen. Das gibt die sensationelle Perspektive: Radio ohne Aufsichtsbehörde, ohne Grenzen. Aber in dieser Bewegung steckt bereits der Keim der Ernüchterung. Die Aufsichts- und Grenzenlosigkeit modifiziert zentrale Bestimmungen der bisherigen Radiobegriffs. In einem Territorium, das ohne bestimmte Kontrollen auskommt, ist ihre Abwesenheit keine Sensation. So scheint es nur beim Grenzübergang. Damit sind beide Reaktionen erfaßt, der angenehme Schock, aber auch ein drohender Katzenjammer. Die Befreiung von den eingespielten Regelungsmechanismen hat einen Preis. Zur Zeit des eisernen Vorhangs, um einen drastischen Vergleich zu riskieren, war es einfach, von der Reisefreiheit für alle Osteuropäer zu reden und sie im Einzelfall zu unterstützen. Die Phantasie des Radios in Eigenverantwortung, mit Qualitätsprogramm, liegt auf dieser Ebene. Sie übersieht, daß sich im ent-grenzten Bereich notgedrungen sowohl das Verständnis von Verantwortung, als auch von Qualität verändert. Ganz banal: wenn ein Administrator einen Switch übersieht (der in der mitgelieferten Konfigurationsdatei fehlt), ist der gesamte Server über ein WWW-Interface für jedermann zu steuern. Schön wär’s, wenn der Begriffsknick die Vorteile des alten Verständnisses mit jenen des neuen Zusammenhangs — bruchlos verbinden könnte. Das war die Euphorie bei der Premiere des Webradios ,,Philosophische Brocken„. Doch so entstehen keine belastbaren Begriffe. Wenn sie sorglos zurückgreifen und Innovation suggerieren, verlieren sie an Spannung und geraten ins Repertoire der Werbebranche. Im Bereich digitaler Technik häufen sich philosophisch pflegebedürftige Ausdrücke: ,,elektronischer Text„, ,,virtuelles Unternehmen„, ,,on-line Gemeinschaften„. Neue Umstände verlangen neu Begriffe. Aber das trifft das Problem nicht präzise. Neue Begriffe entstehen durch einen gedanklichen Knick aus bekannten Vorgaben, sonst hängen sie phantasievoll in der Luft. Das Kunststück besteht darin, Irritationen in Formulierungen zu kleiden.