Herbert Hrachovec: Der Systemverwalter und die Urhorde

Von den Möglichkeiten, die das Internet eröffnet, sind manche besonders populär. Beinahe alle kennen Web-Browser und elektronische Post. Doch die Erwähnung ,,interaktiver virtueller Textwelten„ stößt weitgehend auf Unverständnis. Oft begegnet man bei der Verwendung dieses Ausdrucks der Meinung, es handle sich um einen prahlerischen Namen für den Hypertext des WWW. Auch Informatiker, die schon einmal von ,,MUDs„ gehört haben, betrachten diese Entwicklung als Spielzeug aus der Frühzeit der Kommunikation im Netz.

Tasächlich erreichten die ,,Multi User Dimensions„ ihre höchste Prominenz, bevor das WWW die Benutzer mit vielen bunten Angeboten in die Defensive drängte. MUDs repräsentieren ein anderes Muster der Partizipation im digitalen Umfeld. Sie bieten oft anspruchsvollen Lesestoff und die Gelegenheit zur ,,persönlichen„ Teilnahme an Interaktionen in selbstgestalteten literarischen Umgebungen. Die Mehrzahl dieser ,,virtual communities„ widmet sich zwar, seit ihrer Erfindung, adoleszenten Kampfspielen; so gesehen scheinen sie ein Minderheitenprogramm, von dem sich selbst begeisterte Teilnehmer nach einer Weile abwenden. Aber das wird der Sache nicht gerecht.

Solche interaktiv bewohnbaren Phantasieorte sind ein exzellentes Probe- und Studienobjekt für das Sozialverhalten kleiner und mittelgroßer Personengruppen. Anders als im WWW liegt der Schwerpunkt des Interesses nicht auf der möglichst reibungslosen Abwicklung eines Maximums an Transaktionen, sondern im Aufbau und in der Betreuung telematisch geteilter Denklandschaften, inklusive einer unvermeidlichen Regelung gruppendynamischer Prozesse. Die Erzeugung einer konsistenten, navigierbaren elektronisch implementierten Gedankenwelt verlangt Reglementierung; die ,,Einwohner„ solcher Gemeinschaften geraten im Lauf der Zeit unweigerlich in Konflikte. Die meisten Internet-Dienste erfüllen ihren kommunikativen Zweck gleichsam im leeren Raum. E-Mail und Chat sind jeweils ad hoc abgewickelte Datentransfers. MUDs enthalten und entwickeln die Geschichte ihrer Teilnehmerinnen.

Aus diesem Grund eignen sich MUDs gut, um die Rolle von Computern beim Regieren zu beleuchten. Auf den ersten Blick handelt es sich um ein Problem effektiver Administration. Das paßt für E-Mail oder das Web: Es handelt sich darum, die Abwicklung des Datenaufkommens verläßlich und mit Respekt vor der Privatsphäre zu steuern. Im Fall virtueller Gemeinschaften ist die Aufgabe komplizierter. Die für gewöhnlich vorgegebene Trennung zwischen politischer Verantwortlichkeit und technischer Assistenz greift nicht. MUDs sind, gesellschaftspolitisch gesehen, ein Rückfall in jene archaischen Zustände, in denen der stärkste Krieger auch die Macht im Gemeinwesen besetzte. Modern gesagt: der Systemadministrator, welcher den Server und die dazugehörige Datenbank einrichtet, ist die unangefochtene Autorität in der resultierenden Textwelt, ein ,,wizard„.

Dieser Status ist für Ingenieure weniger bequem, als die Kompetenzverteilung, in der sie öffentlich als hochqualifizierte Hilfskräfte erscheinen. Unter diesen Voraussetzungen können sie die Politik anderen überlassen und sich darauf beschränken, Optionen aufzuzeigen und Aufträge auszuführen. Darin steckt oft ein Schwindel: die Macht der Techniker ist bedeutend größer, als es die demokratisch legitimierte Verfahrensweise erscheinen läßt. Dieses Täuschungsmoment fällt bei Wizards weg. Sie sind kontinuierlich für die pure Existenz jenes sozialen Gebildes verantwortlich, das sich — sekundär — Regeln des Zusammenlebens gibt. Die erste Funktion kann unmöglich in der zweiten aufgehen, so wenig, wie Elektrizität einfach eine Ressource sein kann, die computertechnisch verteilt wird.

Pavel Curtis, der Entwickler des berühmt-notorischen LambdaMOOs, beschreibt in der Retrospektive das Scheitern des Versuch, die ursprüngliche Verantwortung abzugeben. Als Techniker wollte er sich aus allen sozialen Entscheidungen heraushalten. ,,… in hindsight, I forced a transition in LamdaMOO government, from wizardocracy to anarchy„. Es zeigte sich bald, daß die Abdankung des Patriarchen nicht reicht, um in der Urhorde soziale Stabilität zu etablieren. In einer nächsten Intervention dekredierte P.Curtis demokratische Entscheidungsverfahrens, für deren Prozeduren er den Kode bereitstellte. ,,Once again, and again by fiat, I forced a governmental transition on the MOO, we would, I declared, move from anarchy to democracy.„

Unterm Strich ist P.Curtis eher pessimistisch. Das System von ,,Bürgerinitiativen„, das er eingerichtet hatte, tendiert zu ,,mob rule„ und zur Stagnation. Er entdeckt (überrascht) die Vorzüge repräsentativer Demokratien, die eine vermittelnde Funktion für Parteien vorsehen. Und er bezweifelt, ob ein digitales Konstrukt, dessen Bestand derart von Maschinen abhängt, der rechte Ort zur Verwirklichung von Autonomiebedürfnissen sein kann — sei es auch nur im Spiel. Der Einzelfall ist nicht unbedingt repräsentativ, aber er gibt doch einen wichtigen gedanklichen Anstoß.

Digitale Vorkehrungen betreffen in zunehmendem Maße die Substanz politischer Prozesse. In diesen Fällen reicht es weder, sich als Computerexperte diskret im Hintergrund zu halten, noch als Regierungschef sein Glück zu versuchen. Die Mächtigkeit der elektronischen Maschinerie ist mit gesellschaftlich legitimierbaerer Macht keineswegs ausbalanziert. Noch fehlen allen Beteiligten die Mittel, dieses Verhältnis transparent zu gestalten.