Herbert Hrachovec: Hochsaison für Trickkünstler

Pressefotos, zum Beispiel die Eröffnung einer Vernissage. In solchen Bildern tauchen Bilder auf. Ganz selbstverständlich ist das nicht. Jahrhundertelange Übung läßt uns Bilder zweiter Stufe schnell erkennen. Ein spanisches Atelier (Velasquez) und ein Rauchutensil (Magritte) bezeugen, daß Rahmen innerhalb von Rahmen ein Eigenleben führen können. Doch diese Rafinesse fehlt in archaischen Darstellungen.

Heute, in der Urzeit des Computers, herrscht Unbeholfenheit beim Aussortieren der verschiedenen Prozesse, die am Bildschirm ineinanderfließen. Zuerst der Ärger, den Dietmar Kamper so ausspricht: ,,Was ist überhaupt die Bildfläche, wieso muß man dieses irrsinnige, blöde Rechteck akzeptieren als den Ort, auf dem einzig noch die Welt erscheint?„ Und daran anschließend die Weigerung, sich auf die Innenwelt der digitalen Glotze einzulassen.

Die Urzeit der Computer ist allerdings fast schon vorbei. Das Wissen um die Logik der Laufzeichen, die nach dem Knopfdruck am Monitor abrollen, verbreitet sich rasch. Es macht keinen Spaß, sich bei der Bedienung des Gerätes bloß auf vage Ahnungen zu stützen. Das gilt für jede Büromaschine mit BIOS, DOS, Windows und einigen Programmen zur Arbeit und zum Spiel. Es wird aber erst richtig aktuell, wenn der Apparat an ein Computernetzwerk angeschlossen ist.

Die nötigen Einstellungen vorausgesetzt, läuft die Ansteuerung einer Mailbox oder des Zielrechners auf einem anderen Kontinent ebenso ab, wie Manipulationen im lokalen Dateisystem. Bildschirme schlucken Entfernung. Kein Rauschen oder Fading deutet an, daß die Signale aus Übersee kommen und nicht aus dem Kasten unter dem Schreibtisch. Die blanke Röhre unterscheidet – wie Leinwand oder Fotopapier – nicht zwischen fern und nah.

Warum unnötig kompliziert werden? ,,Das Fernsehen bringt uns die Welt ins Haus„, das Internet läßt uns mit Überschallgeschwindigkeit vom PC aus durch Daten rasen. Theoretiker verkünden, daß der Planet zum ,,globalen Dorf„ schrumpft, in dem alle auf Sicht-Distanz nebeneinander wohnen. Die elektronischen Verbindungen beseitigen Distanzen. Tatsächlich kann jede Benutzerin feststellen: Zwischen dem Laden eines Textes von der Festplatte und seiner Übertragung via Kabel besteht kein augenscheinlicher Unterschied.

Solange die Herkunft der bunten Bilder nicht unter die Lupe genommen wird. Ein Kassettenrekorder funktioniert mit Batterien ebenso, wie mit Netzteil. Man könnte sagen: Strom bleibt Strom. Im Falle des Computers: Was einmal digitalisiert ist, steht überall zur Verfügung. Aber das Stromnetz läßt sich nicht auf Akkus reduzieren. Die Herkunft von Bildern nicht auf ihr Flimmern auf dem Schirm.

Literatur zum Cyberspace bietet atemberaubende Sprünge aus dem Wohnzimmer in den Kosmos: ,,Dieses Buch beschreibt ein Ereignis, das in absehbarer Zeit eintreten wird: Sie werden auf den Bildschirm eines Computers blicken und die Wirklichkeit sehen.„ (David Gelernter) Endlich hätten wir die kapriziöse, metaphysische Primadonna, die wahre Welt, im Griff. Bitte nicht so schnell. Zum Aufwärmen eine Übungsfrage: ,,Was ist elektronische Post?„.

Jedenfalls eine brilliante Formel. Auf der einen Seite beschwört sie altbewährte Institutionen, auf der anderen digitalisierten Datentransfer. Das Posthorn ist Begleitmusik modernster Steuerungstechnik. Statt den Briefkasten vor der Haustür zu leeren, klickt der Kunde auf ein Briefkastensymbol. Der Bildschirm bietet Benutzeroberflächen, keine Erläuterungen dazu, was auf ihm geschieht. – ,,Na eben elektronischer Briefverkehr!„ – Das ist, dem Namen nach, ein wundersames Ding.

Briefe: Schriftstücke, befördert zwischen Sendern und Empfängern. Der Transport nimmt Zeit in Anspruch; Mail-Programme sind um Größenordnungen schneller, als der Zustelldienst. Was früher Tage brauchte, braucht jetzt Sekunden. Aus einer Zeitspanne wird ein Augenblick. Das geht so schnell, daß eine andere Veränderung beinahe unbemerkt bleibt. Was elektronisch übermittelt wird, sind keineswegs Schriftstücke im alten Sinn. Erst einmal wird aus Papier und Tinte eine digitale Impulsmenge mit der Bezeichnung ,,E-Mail„, dann beschleunigt sich die Beförderung. Der Qualitätssprung beruht auf einer Metapher.

Elektronische Briefe enthalten unmöglich Warenproben; andererseits können sie – als Programminputs behandelt – Prozesse auslösen. Briefbomben sind ausgeschlossen, die Fernzündung einer Sprengladung wird ein Postvorgang. Angesichts solcher verwirrenden konzeptuellen Umstellungen ist vielleicht der Rat nüchterner Ingenieure hilfreich. Aber ein maßgebliches technisches Dokument zur Festlegung des Übertragungsstandards im Internet beginnt mit diesem Satz: ,,Das Ziel des ‚Simple Mail Transfer Protocol‘ (SMTP) besteht darin, verläßlich und effizient Post zu befördern„ (RFC 821) Das klingt nicht sehr ermutigend. Passende Bezeichnungen müssen der Suggestion der brillianten Formel abgerungen werden.

Wie wär’s mit ,,Teletext„? Das klingt halb so aufregend und kommt dafür der Sache näher. Ein wichtiges Detail zum Verständnis von E-Mail gibt einen Hinweis: Durch einfache Schaltung wird der Text, den eine Briefschreiberin sendet, direkt auf das Terminal des Empfängers gelenkt. Eigentlich ist das schriftliches Telefonieren, mit dem Computer in der Rolle des Faxgerätes. Er ist leistungsfähiger, insbesondere kann er Daten speichern und zur späteren Bearbeitung verfügbar halten. So wird dem Fernschreiben die Metaphorik des Briefverkehrs aufgesetzt. ,,Digitales Fernkopieren„ trifft den Vorgang einigermaßen genau.

Ich rufe nicht nach der Sprachpolizei. Zwei Redeweisen sind unbetroffen: die Alltagssprache und der Jargon der Fachleute. Dazwischen liegt eine Grauzone, in die wir tappen, wenn etwas nicht so läuft, wie üblich und kein Fachmann in der Nähe ist. Das Feld der Erwachsenenbildung und der Philosophie. Aus diesem Halbdunkel kommen Botschaften von morbidem Charme: ,,Es gibt keine Zeit mehr für genaue Informationen. Die Distanz zu urteilen, zu genießen oder sogar einen Sinn zu geben, ist verschwunden. Die Möglichkeit der Sinngebung fehlt, weil es keine Zeit mehr gibt.„ (Jean Baudrillard)

Das heißt, sich vom Unverständnis der elektronischen Protokolle hetzen lassen. Telefonate sind eine äußerst rasche Kommunikationsform. Noch schneller ist der vorauseilende Gehorsam, der lieber die Zeit abschafft, als sich auf technische Details einzulassen. Wer einmal versucht hat, an dem Ding herumzubasteln, weiß genau, wohin die eben erst gewonnene Zeit verschwindet. Unbeholfenheit, Unverfrorenheit: Im magischen Auge des Monitors verschmelzen Innenwelt und Außenwelt. Ein verführerisches Ereignis. Hochsaison für Trickkünstler.

hh
Sun Sep 1 10:11:28 MET DST 1996