Herbert Hrachovec: Über den Wolken

In Auseinandersetzungen mit Logikern nervt es bisweilen, daß sie Bücher mit kurzem Blick daraufhin prüfen, ob sie genügend Formeln bieten. Der philosophische Instinkt wehrt sich dagegen. Es muß doch möglich sein – vielleicht ist es sogar notwendig – qualifiziert zum Sachbereich ,,logisches Denken“ Stellung zu nehmen, ohne sich der Mathematik zu bedienen. Literatur zum Cyberspace bewirkt einen Rollenwechsel. Ich ertappe mich dabei, Traktaten über die Auswirkungen der elektronischen Vernetzung auf die Weltgeschichte zu mißtrauen, wenn sie keinen einzigen ,,Uniform Resource Locator“ (URL) enthalten.

Pierre Lévy verfaßt ein Plädoyer für ,,kollektive Intelligenz“ als emergente Qualität eines Prozesses, in dem die Wissensbestände unserer Zivilisation sich auf sich selbst zurückfalten. Der Prozeß verschafft allen Beteiligten computer-unterstützte Gelegenheit zur Nutzanwendung jenes Machtpotenzials, das bisher in elitär geschützten Reservaten (,,Büchern“) deponiert war. Soweit ich sehe, taucht der Terminus ,,World Wide Web“ kein einziges Mal auf. Das ist zunächst in Ordnung. ,,Wir gehen davon aus, daß sich heute ein neuer ,anthropologischer Raum‘ öffnet, der Raum des Wissens, der durchaus in der Lage wäre, sich die ihm vorangehenden Räume – nämlich Erde, Territorium und den Raum der Ware – unterzuordnen.“ Auf dem Niveau von Betrachtungen, die mit dem Neolithikum beginnen und Antwort auf die Zukunftsfragen der Menschheit geben wollen, dreht es sich nicht um technische Details.

Die Eitelkeit von Leserinnen und Lesern, die allzu dicht an faktischen Erfahrungen mit dem Internet oder der Programmierung ,,virtueller Realitäten“ kleben, sollte nicht der Maßstab sein. Instruktiv und befreiend sind oft gerade jene Interventionen, die neue Perspektiven eröffnen, statt der Kompetenz von ,,Experten“ zu schmeicheln. Hier das Beispiel eines Zukunftsbildes. ,,Der Cyberspace könnte Äußerungsstrukturen beherbergen, die lebendige politische Symphonien hervorbringen, wodurch Kollektive von Menschen kontinuierlich komplexe Äußerungen erfinden und zum Ausdruck bringen, mit ihrer ganzen Bandbreite an Singularitäten und Divergenzen, ohne sich vorgegebenen Formen unterordnen zu müssen.“

Intelligenzen, die überall verteilt sind, sich ununterbrochen reorganisieren, in Echtzeit koordinieren und damit effizient mobilisieren, verschränken sich zu einem ,,cogitamus“, einem selbstbestimmten, auf Elektronik gestützten Epochenwandel. ,,Aus diesem Grund dürfen Weitergabe, Erziehung, Integration und die Neugestaltung der sozialen Bindungen keine getrennten Aktivitäten bleiben. Sie müssen sich aus der Gesamtheit der Gesellschaft vollziehen und sich potentiell von jedem beliebigen Punkt zu jedem anderen hinbewegen, ohne vorherige Kanalisierung, ohne Umweg über ein spezialisiertes Organ.“ Das überfordert meine guten Vorsätze. ,,Wir haben ein Rendezvous mit der Über-Sprache.“ Es produziert Visionen am laufenden Band.

Man nehme eine Vierteilung der Menschheitsgeschichte, den Gestus anthropologischer Besinnung auf die evolutionären Möglichkeiten der Species, den ungebrochenen Glauben an die Ideale der französischen Revolution und zahlreiche Designer-Vokabeln wie ,,molekulare Politik“, ,,transversale Verbindung“, ,,Entterritorialisierung“ und ,,kinetische Karten“. Zusammengießen und kräftig schütteln. Das Resultat ist eine lockere, breiartige Masse von geringem Nährwert.

Zum Beispiel ,,lebendige politische Symphonie“. Was ist an der Metapher neu? Besitzt sie heute aufschlüsselnde Kraft? Wie kann eine solche Wortfügung der Unerforschtheit des globalen Daten- und Tatenraums Orientierung abgewinnen? Lévy expliziert. Es handelt sich um einen ,,improvisierten, vielstimmigen Chor“, der im großen Maßstab nur durch die Rechnerleistungen im Cyberspace realisiert werden kann. Das abstrakte Konzept ist seit langem vertraut. Die Organisation von Staat und Gesellschaft soll die sozialisierten Einzelnen in ihrer Eigenständigkeit bewahren und dennoch synergetisch in den Aufbau übergreifender Sozial- und Wissensstrukturen einbeziehen. Das ist bisher nicht im erwünschten Maß gelungen. Also wird das Problem digitalisiert. Die Weltordnung der spät-kapitalistischen, liberalen Massen-Demokratie wird durch die Beigabe einer neuen Technik zu Verheißungen transformiert.

Das Metaphernpotenzial von Chören und Symphonieorchestern (um beim Beispiel zu bleiben) erfaßt Hoffnungen, die uns schon lange vorschweben. An ihnen finde ich nichts auszusetzen, der Widerspruch gilt dem Versuch, die kontrafaktischen Annahmen in den Cyberspace zu projezieren und ihnen dort – ohne Reibungswiderstand – rasche Ausbreitung vorherzusagen. Die Nonchalance des datenfremden Anthropologen rächt sich unweigerlich. Sven Birkerts etwa ist es gelungen, die prekäre Situation ,,des Buches“ ohne Formelkram, Depression oder Hurra darzustellen. (,,The Gutenberg Elegies“). Er bildet eine Ausnahme. Die Mehrzahl der Autorinnen und Autoren, die lesenswerte Beiträge zur Zukunft der Informationsgesellschaft geliefert haben, verbinden Erfahrungen erster Hand mit Prognosen.

,,Wir gehen von der Hypothese aus, daß es sowohl möglich, als auch erstrebenswert ist, technische, soziale und semiotische Dispositive zu schaffen, die die kollektive Intelligenz wirkungsvoll materialisieren können.“ Lévy denkt an ,,digitale Netze, Computerspeicher und multimodale, interaktive Interfaces …“. Kein Wort darüber, was ,,materialisierte kollektive Intelligenz“ heißen soll. Die doppelte Haltlosigkeit der strukturalistischen und technoiden Begriffsreihen kann sich nur in repetitiven verbalen Kaskaden gegenseitig stützen.

Das Buch enthält ein schönes Kapitel über die neuplatonische Lehre vom ,,intellectus agens“. Engel sind dazu gedacht, die Kluft zwischen dem Herrn des Kosmos und den Menschen zu überbrücken. Sie stehen für ,,kollektive Intelligenz“. Aus Theologie macht Pierre Lévy Technik. Das sieht man seiner ,,Lehre vom Menschen“ auch an.

Pierre Lévy: Die kollektive Intelligenz. Für eine Anthropologie des Cyberspace. Bollmann. 1997

hh
Tue Dec 30 13:45:21 MET 1997