Herbert Hrachovec: Elektronische Journale: Unregelmäßigkeiten im Wissenschaftsbetrieb

Publizieren online erzeugt bemerkenswerte Widersprüche. Das Logic Journal of the IGLP (,,Interest Group in Pure and Applied Logic“) wird von Oxford University Press herausgegeben und kostet derzeit jährlich $ 395.- für Institutionen und $ 185.- für Individuen. Am World Wide Web ist es zur Gänze frei verfügbar. Als wäre das nicht paradox genug, bietet die Website des Verlages ein elektronisches Formular, mit dessen Hilfe die gedruckte Fassung und allenfalls — um $ 39.- ermäßigt — Zugang zu einer online Version bestellt werden kann. Handelt es sich um ein Versehen oder um einen ökonomischen Kalkül? In beiden Fällen zeigt das Beispiel die Verwirrung, die neue Technologien bei Verlagen und ihrem Leserpublikum auslösen können.

In einer Hinsicht stellt das WWW Möglichkeiten bereit, die genau auf die Bedürfnisse wissenschaftlichen Publizierens zugeschnitten sind. Ein Beitrag über ,,Theories of omega-Layered Metric Temporal Structures: Expressivness and Decidability“ ist nicht verfaßt, um Geld zu verdienen; seine Verfügbarkeit im Netz interessiert eine kleine Zielgruppe und eliminiert für Spezialistinnen den sachfremden, aufwendigen Zwischenhandel. Die Perspektive ist revolutionär. Man braucht sich bloß vorzustellen, welchen Umsturz eine 80%-ige Reduktion der Energiekosten bewirken würde. Die etablierten Institutionen akademischer Wissensproduktion sind in ihrer Reaktion vergleichsweise behäbig. Vielleicht ist das nicht schlecht.

Die ,,Visionäre“ des zukünftigen Telekommunikationszeitalters setzen sich über die gegenwärtigen Widersprüche hinweg. Momentan bewirkt ,,online publishing“ einen markanten Orientierungsverlust. Wer sich — um noch ein Beispiel zu nennen — im Netz auf die Suche nach Publikationen über Willard v. Orman Quines Philosophie begibt, findet eine nennenswerte Anzahl erstklassiger Veröffentlichungen; andere sind kostenpflichtig oder nicht vorhanden. Die elektronisch verfügbaren Arbeiten sind ihrerseits von unterschiedlichem Status: Kopien aus konventionellen Journalen; Beiträge zu elektronischen Publikationen; Entwürfe, die zum Kommentar einladen; Diskursfragmente auf Mailing Lists. Die Rahmenbedingungen des wissenschaftlichen Arbeitens unterliegen einer tiefgreifenden Strukturveränderung. Dabei wird sichtbar, welche Einschränkungen die überlieferte Gelehrtenkultur als selbstverständlich hingenommen hat. Es bedarf der Utopie unentgeltlicher, instantaner, globaler Publikation um deutlich zu machen, wie gemächlich und vielfach von hochbetagten Techniken reglementiert es bisher im Verlagswesen zugegangen ist.

Umgekehrt ist die eben genannte Utopie — utopisch. Darin liegt das respektable Moment des Wissenschaftsbetriebs. Im Gegensatz zur umstandslosen Diffusion elektronischer Dokumente manifestieren die teilweise jahrhundertealten Gepflogenheiten und Prozeduren des akademischen Publikationswesens gesellschaftlich erworbenes, institutionalisiertes Wissen, an dem die online-Texte parasität mitnaschen. Ohne den konventionellen Universitätsbetrieb wäre zwischen qualifizierten und unerheblichen Äußerungen über Quine nicht zu unterscheiden. Die vielversprechende Dynamik elektronischer Journale und Homepages speist sich aus dem klassischen Ausbildungssystem. Die befreiende Umstandslosigkeit, mit der wissenschaftliche Resultate zur Verfügung gestellt werden können, ist untrennbar von Instanzen, welche die Produkte prüfen und gebrauchen. Als Philosoph gesprochen: Zwischen den verhandelnswerten Themen und dem Enthusiasmus, sie elektronisch abhandeln zu können, besteht eine schmerzvolle Dissonanz. Wo sich die Datenvermittlung nicht auf bloße Hilfsfunktion reduziert, fehlt eine seriöse Erfahrungsgrundlage.

Soweit der Ist-Zustand; in Zukunft werden die Gegensätze sich abgleichen. Die eruptionsartige Verbreitung sporadischer Wissenschaft wird sich zu einer absehbaren Infrastruktur konsolidieren. Schon heute gehen spontane Initiativen, die das WWW als ein gigantisches freies Anschlagbrett verwendeten, zu überlieferten Formen der Qualitätskontrolle über: Herausgeber-Gremien, peer review und durch solide Finanzierung garantierte Kontinuität. Andererseits ist absehbar, daß gedruckte Zeitschriften, wenn ihre digitale Konkurrenz hoffähig wird, massiv an Terrain verlieren müssen. Die Revolution wird ausbleiben; stattdessen ist mit langfristigen Umschichtungen zu rechnen. In ihnen ändern sich allerdings — insofern sind die Befürchtungen der prä-digitalen Wissenschaftselite angebracht — einige Charakteristika der eingespielten Praxis bis zu Unkenntlichkeit.

Zur Illustration eignet sich die Überlegung, daß die Erscheinungsweise wissenschaftlicher Zeitschriften sehr wenig mit den Gesetzlichkeiten vernetzter Kommunikation zu tun hat. Einzelne Hefte, die alljährlich zu Bänden zusammengefaßt werden, entsprechen dem drucktechnischen Produktionsprozeß und dem klassischen Post- und Bibliotheksbetrieb. Weder die physische Selbständigkeit von Einzelnummern, noch der überkommene Distributionsrhythmus haben eine Entsprechung im online-Bereich. Dort wirkt die Einteilung in separate Lieferungen und Jahrgänge künstlich aufgesetzt. Der Logik eines 24-Stunden-Mediums entspräche es eher, neue Beiträge wie Nachrichten zu veröffentlichen und das zurückliegende Angebot in einer Datenbank zu verwalten. Für ein solches Service ist das Erscheinungsdatum unwesentlich; digitale Bibliotheken im WWW sind ununterbrochen mit ihrem Gesamtbestand zugänglich. Monatliche oder vierteljährliche Zyklen sind ähnlich artifiziell, wie die Steinverkleidung von Metallträgern in frühen Bahnhofsarchitekturen.

Die Regelmäßigkeiten des Erscheinungsablaufes spiegeln eine Welt, in der zwischen Publikationen Zeit war. Wissenschaftsprodukte wurden veröffentlicht, von Einzelpersonen rezipiert und anschließend in weiteren Veröffentlichungen kommentiert und kritisiert. Der Bereich der Telekommunikation läßt keine temporale Unterbrechungen zu; das Internet ist permanent ,,auf Sendung“. Es favorisiert die rasche Reaktion, die ebenso rasch veraltet. Für Forscher des herkömmlichen Typs bedeutet das eine drastische Verkürzung der gewohnten Arbeitsfristen. Manche Höflichkeiten, Aufmerksamkeiten und Fleißarbeiten werden sich nicht aufrecht erhalten lassen. Der Ton wird stärker von Aktualität bestimmt, die Einbettung von Forschungsprojekten in mittelfristige, geographisch lokalisierbare, professionelle Kontexte wird sich tendentiell auflösen. Am Marktplatz des ,,globalen Dorfes“ wird ein anderer Kommunikationsstil herrschen, als in den Hörsälen der ortsgebundenen Universitäten.

Die vertraute Skandierung des Wissenschaftsbetriebs wird zur Polyrhythmie. Den Kategorien ,,Zeitschrift“ und ,,Buch“ steht damit ein ähnliches Schicksal bevor, wie den Bezeichnungen ,,Post“ oder ,,Dokument“, die in der neuen, digitalen Umgebung nur einen Teil des alten Sinns bewahren. Vermutlich werden einzelne Funktionen ganz aus dem alten Rahmen herausbrechen. Umfangreiche Bibliographien, die augenblicklich veraltern, zu drucken, ist im Zeitalter online verfügbarer Ressourcen obsolet. Und doch behalten viele quarzgesteuerte Uhren ein analoges Ziffernblatt. Toningenieure sorgen dafür, daß in Luxuslimousinen ein akustisches Umfeld erzeugt wird, das die Kundenwünsche erfüllt. Webseiten ahmen die Raumaufteilung von Bibliotheken nach. Textverarbeitungsprogramme wählen als Logo Füllfeder und Tintenfaß. Eine ehrenwerte Funktion des sogenannten ,,kulturellen Erbes“ besteht darin, für Umdeutungen zur Verfügung zu stehen. Dabei muß es zu Unregelmäßigkeiten kommen. Erstaunlich; es lohnt sich, neugierig zu bleiben.