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Solidarische Subversion*

Herbert Hrachovec

Adornos ,,Negative Dialektik`` beginnt mit einer Pirouette. Sie dreht sich - ohne Angabe eines Datums - durch den Geschichtsverlauf. Zwei Sätze bestimmen den Stellenwert der Philosophie im Rückblick, Augenblick und Vorblick. Vergangenheit: ,,Philosophie, die einmal überholt schien $\ldots$``; Gegenwart: ,,$\ldots$ erhält sich am Leben $\ldots$; Zukunft: ihre ehemalige Verurteilung ,,$\ldots$ wird zum Defaitismus der Vernunft $\ldots$``. Die Drehbewegung bringt die prekäre Situation der neo-marxistischen Philosophie im Nachkriegsdeutschland auf den Punkt. Ein revolutionärer Umsturz hätte Philosophie realisieren sollen. Er ist ausgeblieben, prä-revolutionäres Denken hat sich darum erhalten können. In dieser Diagnose liegt noch kein Drehmoment. Sie gibt eine historische Betrachtung wieder. Adorno konstatiert jedoch nicht einfach, daß bestimmte Voraussagen ihr Ziel verfehlten, er weigert sich, es bei diesem Fehlschlag zu belassen. Der anvisierte günstige Moment ist ungenützt geblieben und kann nicht mit Gewalt reproduziert werden. Aber das heißt nicht, daß die Gedanken, die zur radikalen gesellschaftlichen Veränderung drängten, ihre Berechtigung verloren hätten. Im Gegenteil - und darin liegt der Dreh: ihre Uneingelöstheit ist der Totpunkt, um den herum sie sich in die Zukunft drehen.

Weniger bildhaft ausgedrückt: Was zur Revolution Anlaß gab, ist auch ohne Revolution aktuell, weil die Gegenwart nach wie vor an jenen Zuständen krankt, die einen Umsturz nötig erscheinen ließen. Philosophieren ist ein Rückgriff, erzwungen durch das Verpassen einer historischen Chance, und dennoch bzw. gerade deshalb unverzichtbar. Als engagierte Erinnerung daran, daß das Scheitern im ersten Anlauf nicht das endgültige Verdikt über den marxistischen Anspruch sein möge. Die Denkfigur zum Auftakt der ,,Negativen Dialektik`` ist, wie gesagt, undatiert. Ihrer systematisch-kompakten Bündigkeit widerstrebt es, Zeitpunkte zu nennen, zu denen die Behauptungen gelten. Offenbar treffen sie die westliche Gesellschaft der 60-er Jahre, doch ihre Unbestimmtheit erlaubt andere Interpretationen. Die Enttäuschung über das Versagen des marxistischen Projektes, welche Adorno aus der Perspektive der Bundesrepublik artikuliert, läßt sich gegenwärtig als globale Ernüchterung lesen. Die Perspektive der anti-kapitalistischen Revolution ist weltweit zusammengebrochen. Adornos Denkfigur ist in der Diskussion um die Zukunft ,,der Linken`` darum wieder aktuell. Sie wird im ersten Abschnitt etwas genauer beschrieben und in die Argumentationen eines Dissidenten in der DDR weiterverfolgt. Dort war sie in den 70-er Jahren wirksam, als die Philosophie im Westen schon längst andere Wege beschritt. Der anschließene Abschnitt untersucht den doppelten Plausibilitätsverlust der Pirouette: nach dem Verblassen der klassischen ,,Kritischen Theorie`` die Untauglichkeit ihrer Rezepte nach der Wende 1989. Zuletzt das Fazit: Ist die Sache damit erledigt? Überraschenderweise zeigt sich, daß die Figur noch immer in Gebrauch ist. Sie ist mit Vorsicht zu genießen.




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h.h.
2000-07-09