1992, während meines Jahrs im Wissenschaftskolleg, sah ich auf der Berlinale einen Film: Die Gedankenwelt des Jochen Girke: Ein Stasi-Oberleutnant und seine „Operative Psychologie“. – Deutschland 1992 – Regie: Johann Feindt und Tamara Trampe Die Erfahrungen beim Versuch, ihn zu interviewen, beschreibt der folgende Text, der vom „Freitag“ nicht publiziert wurde. 5. März, 14 Uhr; Termin zum Interview mit Dr. Jochen Girke. Vor zwei Wochen habe ich ihn im Kino gesehen, im „Psychogramm“ eines ehemaligen Stasi-Offiziers. Der Film war besser, als sein Untertitel, ein zähes Ringen zwischen Ansätzen zur Rechtfertigung und der Forderung, Schuld einzugestehen. Meine erste Frage sollte sein: „Herr Girke, Sie ziehen vor der Kamera noch einmal die alte Uniform an und rekonstruieren im leeren Hörsaal der Stasi-Hochschule Teile Ihrer Vorlesung über operative Psychologie. Warum haben Sie sich darauf eingelassen?“ Nicht zu forsch rangehen, aber auch Empörung durchklingen lassen. Um 9 Uhr klingelt das Telephon. Girke hat ein Problem mit der Verabredung. In Jena fänden heute die Trauerfeierlichkeiten für Gerhard Riege statt, den Bonner Abgeordneten der PDS, der sich nach Bekanntwerden eines IM-Intermezzos umgebracht hat. Als Pressesprecher der PDS Brandenburg möchte Girke gerne teilnehmen und schlägt mir vor, ihn zu begleiten. Im Auto wäre genügend Zeit für ein Gespräch. Ich fürchte die Verkrampftheit einer Unterredung am Schreibtisch mit einem „Schreibtischtäter“ und stürze mich in den Stau Richtung Potsdam. Die PDS ist in einer Villa gegenüber vom Cecilienhof untergebracht, im Flur dient eine Schultafel mit Kreidenotizen als Wegweiser. Die Offenlegung der früheren Tätigkeit Girkes bringt erste Reaktionen. Er drückt mir ein Fax der PDS-Sektion Oldenburg in die Hand, eine Einladung, nächstens über Geschichte, Unentbehrlichkeit und Fehler der Staatssicherheit zu sprechen. Außerdem ein Bündel mit Hörerreaktionen auf eine WDR-Sendung, die er als Studiogast bestritt; der Tenor eher versöhnlich. Die liberalen Westler legen die ersten Steine beiseite. Wir steigen in den parteieigenen Renault 19 und fahren zum Brandenburgischen Landtag, um den Rest der PDS-Delegation zu treffen. Die Organisation von Blumen für die Beisetzung klappt überhaupt nicht. Eine Dame aus der Verrechnung zeigt die Quittung, doch das Bukett mit Trauerschleife ist nirgends zu finden. Beate Thrams hat ihr eigenes mitgebracht, sie hat so eine Konfusion erwartet. Wir steigen in ihren Opel Vectra, hinten das blaue Schild mit Rollstuhl. Beates Tochter ist behindert, sie selbst stellvertretende Vorsitzende des Behindertenverbands und parteilose Landtagsabgeordnete auf der PDS-Linken Liste. Hinter einem Audi mit weiteren Funktionären, in strahlendem Sonnenschein unterwegs nach Jena, komme ich erstmals zum Verschnaufen. Der Film deutet die Biographie Girkes nur in Ausschnitten an. Wie hat er es zum Oberstleutnant der Staatssicherheit gebracht? Eine DDR-Karriere, in der sich Lebenslust, eingelernte Ideale und Manöver zur Erhaltung des Gewissenskomforts durchmischen. Statt einer bereits fixierten Regieausbildung in Moskau Studium für die „Firma“. Die Anziehungskraft der Truppe war stärker, als das Risiko des freieren Künstlermilieus. Girke entschuldigt sich bei Beate, aber es muß einmal gesagt werden: Er wollte nicht aus Karrieregründen mit Frauen des Kulturmanagements ins Bett. Im Film erzählt er vom Veto seiner Vorgesetzten gegen eine Partnerin. Er hätte sie geheiratet, sie hat seine Abwendung nicht verstanden. Da hatte ihn bereits ein anderes Management geködert. In mehreren Situationen hätte er aufhören können und hat es nicht getan. Kleine Verschwörungen gegen die Betonköpfe haben Erfolg, er wird zum Anti-Terror-Experten der DDR und bildet Spezialisten für den Umgang mit Geiselnehmern aus. Wir passieren einen Flughafen, auf dem der Ernstfall geprobt wurde. Ohne die Wende wäre er mittlerweile Lehrstuhlinhaber und würde für eine realistische Einschätzung der Staatsfeinde plädieren. Ich halte ihm entgegen, daß Personen umso unfehlbarer zu ruinieren sind, je korrekter ihre psychologische Konstitution eingeschätzt wird. Während ich spreche erinnere ich mich an Intelligenztests, Rasterfahndungen und die Werbebranche. Wer einmal vom moralischen Roß steigt, muß achtgeben, daß er den Boden unter den Füßen nicht verliert. Die Trauerfeierlichkeiten sind genauso desorganisiert, wie die Blumenspende der PDS Brandenburg. Niemand hat sich um adäquate Räumlichkeiten gekümmert, angeblich haben Universität und Stadtverwaltung abgewunken. Das Luther-Haus in der Friedrich-Engels-Straße faßt gerade die Hälfte der Teilnehmer, kein Mikrophon, stattdessen werden Zettel mit den Namen der Sprecher weitergereicht. Eingeklemmt zwischen verwitterten älteren Männern in schwarzen Kunstleder-Jacken und Aktivistinnen im Feiertagskostüm steckt mich die Ratlosigkeit der Menge an. Ein trauriger Stolz, der an die zurückbleibenden Deutschen in Siebenbürgen erinnert. 200 Meter von der Trauerversammlung wachen drei Polizisten in neuen Blusen und altem Lada über Recht und Ordnung. Jena ist das bekannte Patchwork. Die Aula der Universität und die Verkaufsräume von Carl Zeiss im Umbau, die bisher unverkauften Geschäftslokale im Angebot, die abgefetzten Plakate am Institut für Physiologie internationaler Uni-Look. Im Villenvirtel signalisieren die nicht verputzten neuen Fensterrahmen den Beginn der Renovierungsphase. An schönen Frühlingstagen, wenn sich eine Kommilitonin bereit fand, die Vorlesung mit Durchschlag mitzuschreiben, sind die Jungs ins Grüne ausgerissen. Jochen Girke steuert zielsicher zum Rathaus, dort hat er geheiratet. Eine Ausstellung blockiert den Weg zum Trauungssaal. Lernen Sie den Verfassungsschutz im freiheitlichen Rechtsstaat kennen. Jemand ist auf die Idee gekommen, die Bürger im Osten über die Unterschiede zwischen BfV und MfS zu informieren, bevor die westliche Regelung per Gesetz in den neuen Ländern übernommen wird. Der Merksatz lautet: „Der Verfassungsschutz hat mit der Stasi nichts gemein.“ Ein Schmierer hat „nichts“ durchgestrichen und „alles“ drübergesetzt. Schwarz auf weiß werden die Vorzüge des Verfassungsdienstes genannt, schwarz im roten Feld die Übergriffe der Stasi im Unrechtsstaat. Neben mir steht einer, der als Informant und Wissenschaftler, als über das Normalmaß hinaus Engagierter und bisweilen zweifelnder Beobachter am Unterdrückungsmechanismus mitarbeitete. Ein Angestellter, der mittlerweile nicht mehr davon. überzeugt ist, daß ein sauberer Schreibtisch persönlicher Schuldlosigkeit gleich-kommt. So ist mein. Eindruck, ihn danach zu fragen brächte die Unterhaltung sofort auf das Niveau der Ausstellungstafeln. Die Situation provoziert Galgenhumor. Auf der Rückfahrt, in der Gastwirtschaft „Zum Trotz“, eilt eine tempramentvolle, schwarz gekleidete Frau an uns vorbei. Jochen Girke erkennt sie und holt sie mit ihren beiden Begleiterinnen aus Bonn an unseren Tisch. Jutta Braband bestellt Wein, „trocken“. Der Wirt ist in Verlegenheit, „weil er nur Riesling hat“. Währenddessen erzählt Frau Braband quer durcheinander von den Zeiten, in denen sie Täterin und / oder Opfer war. Sie gratuliert Jochen Girke nachträglich zur Präzision, mit der die Staatssicherheit 1989 das Bündnis 90 beschrieb und einschätzte. Beide gestehen einander eine frivole Neugier: Sie sind gespannt auf ihre Unterlagen und möchten gerne wissen, ob ihre Berichte vor Jahrzehnten so intelligent waren, wie sie es in Erinnerung behalten haben. Die Unterhaltung springt zu einem anderen Detail, einer Verhaftung Jutta Brabands. Damals ist sie in steigender Angst aus dem Trabi gesprungen und davongelaufen. Das war den Herren offenbar zu peinlich, ihre Akte verzeichnet nichts davon. p> Der Rest der Heimfahrt gehört Beate Thrams. Die DDR gestattete keine Behndertenverbände, Menschen im Sozialismus sind gesund. Die Politik der Gehandikapten, der Jungen, Alten, Schwulen und Grünen hat sich nach der Wende sprunghaft belebt. Oft gegen die Westler, die ihnen ihre Organisationen überstülpen wollen. Es macht keinen Sinn, die westdeutsche Forderung nach völliger Abschaffung der Sondereinrichtungen für Behinderte zu importieren. Die Sozialstrukturen sind für einen solchen Integrationsschock nicht vorbereitet. Fast so skeptisch, wie gegen die Westparteien, ist Beate gegen die Bürgerrechtlerinnen, die im nationalen Feuilleton selbstgerecht die Hälfte der Wahrheit ausschlachten. Sie wäre in ihrem Betrieb als erste gekündigt worden, jetzt sitzt sie int Landtag. Ihre Energie und verhaltene Wut sind Kräfte, welche die PDS aufzufangen und mit ihren Zielen zu verbinden sucht. Von einem Interview ist bis 20 Uhr, als wir zurück in Potsdam sind, keine Rede. Aber ich erfahre die Bedeutung der Bierflaschen, die Jochen Girke beim Zwischen-stopp gekauft hat. Heute ist Geburtstag seiner Frau, sie haben Gäste. „Wollen Sie nicht mitkommen?“ An diese Durchlässigkeit zwischen öffentlicher und privater Aktivität bin ich nicht gewohnt. Vertraut er mir, oder will er mich überrumpeln? Die Stimmung liegt zwischen Euphorie und Arbeitsanstrengung; Kontaktbedürfnis und Öffentlichkeitsarbeit jenseits des Plansolls. Biermanns „Das kann doch nicht alles gewesen sein“ wie es leibt und lebt. Im Kreis aus dicken Polstersesseln und Verandastühlen (Massivholz) herrscht gute Stimmung. Inmitten dieses Mobiliars, so scheint es mir, können Existenzen kaum kaputtgehen. Lockere Gespräche bei Knabbergebäck, Pizzaschnitten und Salat. Für die Besucher der Siedlung an der früheren Stasi-Hochschule wird langsam deutlich, daß man für neue Ziele arbeiten kann. Frau Dr. Gabriele Girke war Dozentin für Marxismus-Leninismus an der Verwaltungsakademie Potsdam und hat ein Institut für Umschulung und Fortbildung gegründet. Eine Folge des gesellschaftlichen Erdrutsches: Überdurchschnittlich kluge Ostdeutsche werden zurückgestuft und müssen ihre Ideen gegen eine oft arrogante Interimsverwaltung durchbringen. So war das Praktischwerden des dialektischen Materialismus nicht gedacht. Wer weiß, vielleicht wird daraus ein Entwicklungsschub. Der Hochschulprofessor, bei dem Frau Girke arbeitete, ist einer der PDSAbgeordneten aus der Begräbnisdelegation und auch Geburtstagsgast. Ich spreche mit dem Philosophen über die Versuche der Selbstbeschwichtigung im früheren Regime. Die wachsende Irritation angesichts des spürbaren Ausverkaufs verlangte hochselektierte Wahrnehmung. Zwei Jahre später liegen die behelfsmäßigen Tricks offen zu Tage, jene Gedanken, die so hingebogen wurden, daß sie den Hausfrieden nicht stören. Jetzt ist schwer zu entscheiden, wie die Energie zwischen Reinemachen und Weitermachen aufzuteilen ist. Ungläubig höre ich, daß die Versammelten sich schon seit Jahren im Schatten des Stasibaus gut verstanden und frei ausgesprochen haben. Dabei geben sie zu, von mehreren Bekannten bespitzelt worden zu sein. Normalität und Lebenslüge sind seltsame Verbindungen eingegangen. Ich richte mich für diesen Tag bloß danach, was ich zu sehen kriege und komme zu dem Schluß, daß die gegenwärtige Offenheit ohne Vorstufen im alten Staat nicht möglich wäre. So schnell ist Lernen nicht zu lernen. Sie können über den Kollegen lachen, den die Müllverwertung wegen „Altlasten“ nicht anstellt. Sind stolz auf die junge Frau aus dem Bundesvorstand mit grünen Haaren, halbgeschoren. Sie registrieren verschmitzt, daß im Westen ohne Bedenken auf jeden Kleinkram „PDS“ gedruckt wird, wenn nur die Rechnung stimmt. Auch Deutsche sind zur Ironie fähig, wenn man ihnen die Zielvorgabe nimmt und sie leben läßt. Statt eines Tonbands nehme ich einen Tag zurück nach Westberlin. Der Weg führt über die Königsstraße und die Koenigsalle. Paläste, Banken, dazwischen der Hüttenweg. Daß der sich bei den vielen Umbenennungen noch halten kann. © Herbert Hrachovec