Diese Rede wurde im Rahmen einer Kunstaktion an der Universität Linz von einem Kellerabteil aus an das Publikum übetragen. Die einzelnen Abschnitte erschienen 1991 in den Heften 17-20 der Wiener Stadtzeitung FALTER.

 

Den Untergang herabbeschwören. Rede aus einem Bunker

Herbert Hrachovec

 

Die Übertragung, an der Sie teilnehmen, läßt sich verschieden deuten. Der wahrscheinlichste Weltuntergang ist seit einigen Jahrzehnten eine von Menschen herbeigeführte atomare Katastrophe. Da wir sie auslösen, müßte es möglich sein, uns auch vor ihr zu schützen. Gegen das Jüngste Gericht half nur ein ehrenwertes Leben, angesichts nuklearer Verwüstung kommt auch ein Schutzbunker in Frage. Der Redner ist zur Sicherheit gleich einmal vorausgegangen, das ist die eine Deutung. Aber mein Thema werden die Anstrengungen sein, bevor das Debakel tatsächlich eintritt, Abhilfe zu schaffen. Dazu ist die hermetische Kammer gerade der falsche Ort; ein Übermaß an Öffentlichkeit wäre von Nöten, also zumindest eine Fernsehsendung. In einer solchen Szenerie würde der Bunker allerdings wie der weiße Kittel funktionieren, den sich ein Arzt zum Interview anzieht; als visuelle Verstärkung der bereits vorhandenen Klischees. Wir befinden uns mitten in der Sache, von welcher der Vortrag handeln soll, nämlich in der Verwirrung, die ein globaler Krisenfall in unserem auf Alltäglichkeit geeichten Begriffshaushalt anrichtet. Angenommen ein nachdenkliches Wesen stellt sich die Aufgabe, die Position seiner Gattung vis a vis dem Weltuntergang abzuschätzen. Dann wird es zwischen Pathos und Defätismus hin- und hergerissen. Die Ungeheuerlichkeit des Themas greift die Substanz der regelgerechten Kommunikation an. Bestimmte Aussichten sind in keinem der uns vertrauten Rahmen kleinzukriegen.

Verständigungsversuche über Maximalgefahren sind notwendig gebrochen, anders könnten sie sich nicht vor ihrem Gegenstand schützen. Der Umweg, über den ich mich an Sie wende, gibt einen Hinweis auf die notwendigen kognitiven Schutzvorkehrungen, ohne die in diesem Fall nicht einmal bescheidene Ansätze von Vernunft entstehen können. Ich werde in vier Abschnitten die Frage umkreisen, mit welchen Tricks der Strahlentod des Planeten so besprochen werden kann, daß Aufschübe denkbar oder sogar machbar werden. Jean Baudrillard hat eingestanden:

„…mein Phantasma ist vielleicht, daß es die äußerste Herausforderung wieder gäbe. Einerseits nehme ich den Zustand der Dinge, also ich muß den Zustand der radikalen Indifferenz der Dinge beobachten und analysieren, also ich meine die radikale Schicksalslosigkeit und andererseits, vielleicht ist es doch immer ein Traum, oder eine Metapher oder ein Phantasma, möchte ich, daß es die radikalste Herausforderung, also die radikalste Fatalität gäbe, das radikalste Schicksal wieder gäbe“ (Jean Baudrillard: Virustheorie. Ein freier Redefluß, in: Kunstforum 97 (1988), S. 252)

Angesichts massiver Todeswünsche scheint es einigermaßen lächerlich, sich zu verbunkern und über Drähte mit der Außenwelt Kontakt zu halten. Aber es könnte sein, daß dieses Verfahren mehr bringt, als die Bereitschaft, von Anfang an alle Sicherungen durchbrennen zu lassen. Postmoderne ist nicht selten als Freibrief für Frivolitäten nach dem Kollaps allgemeinverbindlicher Ordnungsvorstellungen aufgefaßt worden. Dem Kollaps kann sich eine Erörterung über Weltuntergang nicht entziehen; die Frivolitäten sind auch schwer zu vermeiden, wenn es um Randlagen des Vorstellungsvermögens geht. Ein Umstand ist dennoch unübersehbar: letzte Worte sind in der Regel Anmaßungen. Solange die Gedanken zirkulieren, döst die Bestie. Wehe, wenn der Kreislauf stockt. Ich bin bereits dabei, ihn anzutreiben.

Vernunftbegabt

In Einzelfällen ist österreichischer Charme noch immer unschlagbar. Einer der wenigen Lichtblicke im Buch des sowjetischen Nuklearingenieurs Grigori Medwedew über Tschernobyl ist unsere Haltung zu Zwentendorf. „Hier ist ein Detail zu erwähnen … nämlich, daß die österreichische Bevölkerung durch freiwillige Spenden die Kosten des KKW übernahm; nach Bezahlung der beteiligten Firmen ließ die Regierung das Kraftwerk konservieren.“ So günstig ist ein guter Ruf selten zu haben. Die Erklärung ist wohl, daß diese Geschichte der Symmetrie des Märchens folgt. Als Spiegelbild zur völlig verstrahlten, mit einem Betonmantel hermetisch abgedichteten, Ruine drängt sich ein Kernkraftwerk im Stand der Unschuld, in einem Land von guten Menschen, auf. Soll sein.

Es gestattet einen heiteren Einstieg in die Debatte über die drohenden Großereignisse.. Die nukleare Katastrophe ist absurderweise immer und nur zu bestimmten Zeiten aktuell. Gerade weil sie jeden Augenblick virulent werden kann, wird sie zur Entlastung dem Auf und Ab der Katastrophen- und Kriegskonjunktur zugeschoben; ein ganz gewöhnlicher Wahnsinn. Ich frage erst einmal, wie es aussieht, wenn man dem Phänomen mit Ethik beikommen will.

Hinter der für Störfälle der „friedlichen Nutzung“ von Kernenergie typischen Anhäufung von Profitgier, Inkompetenz und Schlamperei versteckt sich eine Möglichkeit, auf welche sich die Ethik gerne konzentriert, nämlich den von Menschen bewußt herbeigeführten Weltuntergang. Allerdings leidet die Sittlichkeit – bei dieser Aufgabe kein Wunder – unter Konzentrationsschwäche. Niemand kann Tag und Nacht dem Nichts ins Auge sehen. Das ist noch harmlos ausgedrückt, denn „sehen“ ist schon viel zu menschlich. Ist der gesamte Themenkreis nicht so gigantisch, daß die philosophische Nachprüfung der passenden Verhaltensweisen nur mehr pathetisch leerläuft? Bei Heidegger, der dieses Bedenken paradigmatisch vorweggenommen hat, liest sich das so:

„Da erkennen wir, daß ein Augenblick der Geschichte nahe ist, dessen Einzigkeit sich keineswegs nur und erst aus dem Zustand der seienden Welt und unserer eigenen Geschichte in ihr bestimmt. Es ‚geht‘ nicht nur ‚um‘ das Sein und Nichtsein unseres geschichtlichen Volkes, es ‚geht‘ nicht nur ‚um‘ das Sein oder Nichtsein einer ‚europäischen‘ Kultur, denn dabei geht es immer schon und nur um Seiendes. All diesem zuvor und anfänglich steht zur Entscheidung: das Sein und Nichtsein selbst, das Sein und Nichtsein in ihrem Wesen, in der Wahrheit ihres Wesens.“  (Martin Heidegger, Parmenides. Gesamtausgabe Band 54, Frankfurt/M 1982 S.241 

Ich schraube diese weltumfassende Denkbewegung vorsichtshalber zuerst einmal zurück. Von Kant ist uns die geniale Aussicht überliefert, um gut zu sein wäre wesentlich, daß man sich an Vernunft hält. Die Fähigkeit, von eigenen Wehwehchen und dem Vorteil von Bezugsgruppen um des Gemeinwohls willen zu abstrahieren, ist nicht nur edel, sondern auch rational. Nur diese Einstellung kann nämlich einer unparteilichen Prüfung standhalten. Für Kant folgt das aus der Definition des Sittlichen als allen Menschen gemeinsames, vernünftigen Überlegungen zugängliches, Gut. Die Aussicht scheint im Zeitalter der Atombombe wie gerufen zu kommen. In ihrem Sinn ist es klug und als Bonus auch moralisch geboten, das Instrument, das unterschiedslos alle auslöscht, entsprechend bedingungslos zu verwerfen. Damit sollte eigentlich alles klar sein; ist aber nicht.

Vernunft spielt in diesen Verhältnissen nämlich die Rolle eines vollen Portemonnaies für Reisende im Busch. Erstens: um die Expedition auszurüsten brauchen sie Geld. Zweitens: wo sie hinführt, gilt es nicht. Drittens: wenn sie überleben wollen, müssen sie sich Überbrückungshilfen zwischen ihrem Besitz und ihren Bedürfnissen im fremden Territorium ausdenken. Die Verzweiflung der Kantianer ist das böse Erwachen, daß ihr Zahlungsmittel, wo sie hingeraten sind, die Leute nicht beeindruckt. Die sagen: „Wenn ihr Monopoly spielen wollt, tut es zu Hause. Wir waren bei
der Verteilung der Scheine am Anfang nicht dabei.“ Die Macht der Vernunft hat sich in Zeiten ausgebreitet, als noch wenig Widerrede der noch nicht zur Vernunft Gebrachten zu gewärtigen war.

Es bedarf keines exotischen Beispiels, um die Zwickmühle der im Westen entwickelten weltumfassenden Denkprinzipien angesichts der atomaren Bedrohung zu beleuchten. Schon lange vor den ersten Detonationen war Selbstkritik zu hören. Die Allgemeinheit eines für alle Menschen verbindlichen, vor dem Gerichtshof Gottes oder der Weltgeschichte, oder zumindest des aufgeklärten Publikums einklagbaren Verhaltenskodex wurden als eine Sache der Kapitalisten und ihrer Missionare sichtbar. Weltweites Monopoly mit dem Sittengesetz als Spielanweisung. Das ist die Kernspaltung, die durch das gute Gewissen der Industriestaaten geht.

Ein Exote in den eigenen Reihen: Wittgenstein. Die Aussicht einer philosophischen Lehre über das richtige Leben kommentiert er so: „Wäre jemand imstande, ein Buch über Ethik zu schreiben, das wirklich ein Buch über Ethik wäre, so würde dieses Buch mit einem Knall sämtliche andere Bücher auf der Welt vernichten.“ Es wäre eine Atombombe des Besserwissens. Die Bruchlandung der tiefen Wünsche nach sittlicher Rechtfertigung besteht in diesem Dilemma: Wüßten wir wirklich ein für allemal, wie’s geht, wir könnten den Rest vergessen. Ein Regelsystem, das die globale Vernichtung ausschließt, wäre selbst eine Erscheinungsweise globaler Vernichtung.

Schlicht und einfach: ein sicheres Mittel gegen die Atombombe wäre sicher ebenso tödlich. Das liegt daran, daß Menschen als unsichere Wesen definiert sind. Auf der einen Seite drängt der Überlebenstrieb zu einem Rezept gegen die Selbstzerstörung. Vernunft gegen den hellen Irrsinn scheint keine schlechte Idee zu sein. Aber Vernunft als Allheilmittel ist auf der anderen Seite ein wohlbekanntes Sedativ. Es steht nur einigen, nur unter bestimmten Bedingungen, zur Verfügung und für die andern spiel’n sie’s nicht. Das ist den Philosophinnen dieses Jahrhunderts nicht verborgen geblieben. Sie haben sich abgewöhnt, der fragenden Menge Reichtümer aus ihrem Spielkapital anzubieten.

Vernunft einfach als kaputt zu erklären ist allerdings auch wieder grobe Energieverschwendung. Zwischen dem Maximalprogramm, dessen ständige Fehlerfüllung ihr nachhängt, und ihrer Wirkungslosigkeit liegen einige Übergangsstadien. Wenn schon kein Buch über Ethik, zumindest Gedankensplitter, Aushilfe für den Bereich, in dem die Deutschmarks zwar nichts helfen, aber vielleicht gewechselt werden können. Ein Einwand drängt sich sofort auf. Das ist noch an den Grenzen die Auswirkung des Weltwährungssystems. Allerdings, Nachdenken und Geldwirtschaft sind ansteckend. Mit beidem ist die unschuldige Natur seit längerem kontaminiert.

Entscheidungsfähig

Ich hätte am 26. April 1986 in Tschernobyl gern gehandelt, wie der Aufseher des dritten Kraftwerkblocks, Jun Eduardowitsch Bagdasarow. Er entdeckt, daß Wasser aus dem Kühlsystem seines Reaktorblocks zur Katastrophenbekämpfung abgezweigt wird und verlangt vom Chefingenieur die Erlaubnis, seinen Reaktorkern abzuschalten. „Das wird ihm von Fomin untersagt. Gegen Morgen fährt Bagdasarow den Block auf eigene Verantwortung ab und überführt ihn in das Regime der Abkühlung, wobei er Wasser aus dem Abblasebecken zuspeist.“ 

Bagdasarow ist einer der Helden im Tschernobyl-Epos Grigori Medwedews. Der Megaknall wäre vermeidbar gewesen, hätten sich fünf weitere verantwortliche Ingenieure wie er verhalten. Das scheint Grund zur Hoffnung, selbst im Kriegsfall. Ein hohes Maß an Sittlichkeit kann die Katastrophe vielleicht doch aufhalten. Nach dieser Auffassung kommt es nur darauf an, die Fähigkeit, für andere Verantwortung zu tragen, so sorgfältig auszubilden, wie die Maschinerie des Schreckens. Wenn die Vernunft uns das nicht garantieren kann, nehmen wir alles, was sich sonst anbietet. Sanktionen, Bewunderung und Überlebenstrieb. Bis jetzt hat es recht und schlecht ausgereicht, das Ärgste zu verhüten. Die Philosophen sollten sich ein Beispiel daran nehmen. Das tun sie auch und mobilisieren die verfügbaren Reserven rationaler Überredungskunst.

Zwei Strategien bieten sich an. Die eine besteht darin, alle Konzentration auf das Wesentliche zu bündeln und davon den Umschwung zu erhoffen. Die andere im umsichtigen Abwägen der beteiligten Interessen; in der Reflexion als Friedensstiftung. Vorhin war bereits von der Konzentrationsschwäche die Rede, die nachdenkende Menschen der Bombe gegenüber befällt. Eine Reaktion für Philosophen ist, sich umso vehementer als aufrüttelnde Wächter zu betätigen. Günther Anders und, durch eine Generation getrennt, Ernst Tugendhat sind Beispiele dafür. Der berühmte kategorische Imperativ Kants verlangt, daß alle sittlich vertretbaren Handlungen ohne Ansehen der Person und Umstände universalisierbar sein müssen. Darin steckt ein ideologisches Moment, dennoch pressen Anders und Tugendhat aus dieser Vorschrift einen heilsamen Inhalt.

Anders greift zur Nothilfe der parodistischen Verdrehung der eingefleischten Formel. „Habe nur solche Dinge, deren Handlungsmaximen auch Maximen deines eigenen Handelns werden könnten.“ Dieser Imperativ ist als permanentes Schrillen der Alarmglocken gedacht. Wie soll es zugehen, daß Dinge handeln und uns ihre Richtlinien als moralische Gebote vorgeben? Anders verkennt nicht, daß Sachzwänge in der Regel schwerer wiegen, als persönliche Überlegungen, möchte aber andererseits die Verantwortung des handelnden Subjekts nicht aus dem Spiel lassen. Der Ingenieur Juri Bagdasarow hat darauf geachtet, daß der in beinahe allen Hinsichten übermächtige Reaktor dennoch unter seiner Kontrolle blieb. Das ist absurd und doch auf seine Weise tröstlich, wie die Geschichte von David und Goliath.

Ernst Tugendhat rüttelt, um das Maximum an Abrüstungsbereitschaft zu erzielen, an einer anderen Selbstverständlichkeit. Er nennt die gegenwärtige Machtkonstellation einen „phantastischen atlantischen Ethnozentrismus“ und ruft zur – wenn notwendig einseitigen – Beseitigung des nuklearen Potenzials der Westmächte auf. Das „qualitativ Neuartige und Einzigartige am Atomkrieg (besteht) in der Vernichtung des Ganzen selbst“ und Menschen, die nicht anders können, als sich aus einem ihre Einzelexistenz übersteigenden Ganzen zu verstehen, kapitulieren vor ihrer innersten Bestimmung, wenn sie die atomare Auseinandersetzung ohne Widerspruch hinnehmen. Noch einmal Bagdasarow: Sich dem Gebot des Vorgesetzten entgegenzustellen ist in so einem Fall das Einzige, was menschlichen Aktivitäten noch Sinn gibt.

Das sind radikale pazifistische Stellungnahmen. Vermittlungsversuche mit größerem realpolitischem Anspruch konnten nicht ausbleiben. Unlängst hat Dieter Henrich das Hegelianische Prinzip, daß individuelle Einsicht in eine Wahrheit niemals so zwingend sein kann, wie die vernünftige Konfrontation dieser Überzeugung mit den geschichtlichen Umständen, in einer „Ethik zum nuklearen Frieden“ zur Geltung gebracht. Es sei eine alarmierende Einseitigkeit, zu fordern, daß immer und überall alles zu geschehen hat, um die Bombe loszuwerden. Seine Intervention nimmt die Aussichtslosigkeit zur Kenntnis, „dem absoluten Gebot durch einen Appell zur sittlichen Eindeutigkeit auch ebenso unmittelbar wirkliche Geltung zu verschaffen.“

Mit der Brechstange kommt man da nicht durch, besser ist es nach Henrich, geduldig und mit einer Portion von List auf längerfristige Überzeugungsprozesse zu vertrauen. Vernunft nicht in geschliffenen Paradoxien direkt auf dieses Monstrum hetzen, sondern sie mit Strahlenschutz versehen in diplomatische Dienste treten lassen. Sie schonen, damit sie bei der Entschärfung der Situation mitreden kann. „Sowohl der Kreuzzug zugunsten der nuklearen Abrüstung wie auch die emotionslose Strategieerkundung haben auf dem Weg zum nuklearen Frieden ihr jeweils begrenztes Recht.“ Extremismus ist gerade in
hochexplosiven Umständen fehl am Platz. Gescheite Leute eignen sich zur Bewältigung von Spannungen besser, als zur Prophetie.

So kommt es, wie es kommen mußte. Sobald die Diskussion beginnt, verteilen sich die Gewichte auf beide Seiten. Auf diese Weise ist kein Krieg zu gewinnen und das ist ja die Absicht. Zu verhindern ist er allerdings durch Auseinandersetzungen über die erforderliche Radikalität der Ethik auch nicht. Zuerst mobilisiert ein offen-sichtlich brennendes Problem das allgemeine Interesse, dann fahren sich die Vorschläge zu seiner Lösung in einen Streit der Schulen und politischen Lager fest. Und darauf wieder zeigt sich die Öffentlichkeit schockiert und schiebt die Schuld dafür, daß nichts geschieht, den Fachleuten zu.

Mitten in diesem Argumentstau steckt die Überzeugung, daß etwas getan werden muß. Für die meisten Betroffenen bedeutet das, dort anzupacken, wo es gerade möglich ist. Philosophie setzt auch in diesem Schlamassel noch darauf, die verfahrene Situation durch Nachdenken in Bewegung zu bringen. 

Nervenstark

Folgender Standpunkt ist weitverbreitet und gilt als realistisch: Was zählt, sind Fakten. Die endlosen Auseinandersetzungen über ihre Deutung können wir uns sparen. Darum brauchen wir zur Bewältigung der nuklearen Herausforderung Einsicht und klare Entscheidungen, keine Ideologen. Ein abschreckendes Beispiel bietet das höhere Management des Kernkraftwerks Tschernobyl. Die leitenden Ingenieure waren nicht in der Lage, sich und ihren Vorgesetzten einzugestehen, daß der Reaktor tatsächlich explodiert war. Sie glaubten fest, es handle sich um Schwierigkeiten in einem Pumpraum. Erst als Mitglieder des aus Moskau gesandten Krisenstabs das Gelände mit dem Hubschrauber überflogen, kam die Wahrheit heraus. Danach zu gehen, was man gerne hätte, ist in solchen Fällen offenbar gemeingefährlich.

Das klingt aufgeklärt und unsentimental, stimmt aber nicht. Grigori Medwedew läßt einen Schichtleiter von Block 4 erzählen. „Seltsam, aber die große Mehrheit der Operatoren, mich eingeschlossen, nahmen in diesen entsetzlichen Stunden den Wunsch für die Wahrheit. ‚Der Reaktor ist intakt!‘ Diese Behauptung war faIsch. Aber sie rettete uns. Sie erleichterte Geist und Seele und verhexte viele von uns, hier ebenso wie in Pripjat, Kiew und Moskau und zog Befehle und Anweisungen nach sich, welche die Situation immer weiter verschärften.“ Der technische Havarieschutz war zwecks eines Experimentes abgeschaltet worden, ein instinktiver Schutzmechanismus blieb in Kraft. Das ist nicht nur ein psycho-hygienischer Befund, sondern dazu noch Anhaltspunkt für Bedenken gegen Ultra-Sachlichkeit als angeblich besten Schutz vor und bei Katastrophen.

Von Kants Versuch, sowohl das Wissen, als auch das Handeln auf den festen Boden intersubjektiv nachvollziehbarer Verfahrensweisen zu stellen ist das einiger-maßen entfernt. Auch die Alarmsignale, zu denen die einschlägigen vernünftigen Überlegungen mittlerweile fast notgedrungen werden, reichen da nicht hin. Im ersten halben Tag nach dem Unglück war eine Menge zu tun, damit es sich nicht multipliziert und diese Aktionen hatten Hoffnung wider besseres Wissen zur Voraussetzung. Um diese Feststellung nicht in höhnischen Nihilismus absacken zu lassen, ist eine Theorie der sub-optimalen Verarbeitung der Wirklichkeit durch Menschen nötig. Man könnte sagen eine Betrachtungsweise, die mit einbezieht, daß unsere Kapazitäten zum Umgang mit dem Entsetzlichen auch einen Anteil an lebensnotwendiger Unwahrheit enthalten.

Jaques Derrida hat einen Vorstoß in diese Richtung unternommen. Wir dürfen nicht darauf verzichten, solche Ereignisse unter dem Aspekt der Macht bloßer Worte zu betrachten. „Die Vorwegnahme des Atomkriegs (gefürchtet als Phantasie, oder Phantasma, einer restlosen Zerstörung) begründet die Menschheit – und definiert sogar durch viele verschiedene Schaltstellen das Wesen der modernen Menschheit in ihrem rhetorischen Zustand.“ Manche halten es für frivol, auf die Atommacht mit Literaturkritik zu reagieren, doch Derrida sucht einen Ausweg aus dem Zerstörungsdrang der Wörtlichkeit.

Die Aufgabe, einen Atomkrieg auch nur zu beschreiben, ist nicht weniger phantastisch als jene, einen geborstenen Reaktor zu kontrollieren. Es ist wahr, die Reflexion zieht sich mit dieser Behauptung aus der vordersten Reihe der Konfrontation mit dem Phänomen zurück. Aber ihm gegenüber gibt es sowieso weder Parterre, noch Galerie. Die Arbeit an vorhandenen, naturgemäß fiktionalen, Kategorien zur Annäherung an den Strahlentod ist philosophischer Zivilschutz.

So kommt es, daß der Streit darüber, wie über das beinahe Unvorstellbare richtig zu reden sei, sich auch als Beitrag zu dessen Eindämmung anbietet. Wenn die Faszinationskraft der Apokalypse abnimmt, sinkt die Wahrscheinlichkeit, daß jemand sie fabriziert. Umgekehrt ist allerdings auch klar, daß schon seit einiger Zeit Alarmstufe 1 herrscht. Mit diesem Resultat sitzen die Schreiber in der Tinte. Der Zugang zu eindeutigen Maßnahmen ist ihnen verschlossen. Das schlägt auch auf die überzeugten Pazifisten zurück.

Günther Anders, der die Unentrinnbarkeit des nuklearen Horrors zum Fixpunkt jeder gegenwärtigen Moral erklärt hat, wurde deswegen in den 60-er Jahren von Friedrich Torberg im FORVM ausgelacht. Der Verriß war ebenso brillant, wie charakterlos. „Tut doch nicht immer, als ob Ihr die Angst vor der Atombombe gepachtet hättet. So volle Hosen wie Robert Jungk und Herr Anders hab ich noch lang. Aber ich halte volle Hosen weder für ein Merkmal besonders aufrechter Gesinnung, noch für eine besonders günstige Verhandlungsbasis.“

Als Mittelschüler habe ich das mit amüsierter Zustimmung gelesen. Lieber ein guter Schmäh, als durch das ständige Reden vom Weltuntergang ein Loch im Bauch. Das hiesige Lokalkolorit färbt auch auf Menschheitsfragen ab. Rudolf Burgers im FORVM abgedruckte Eröffnungsrede zum Anders-Symposium der Stadt Wien 1990 dreht die Beschwerde gegen das Kleben am Untergang zu einer Ehrung für den Hochverdienten.

„Die Wahrheit ist auf die Dauer niemals bei den Unbedingten.“ Prinzipienfertigkeit ist Widerschein der blanken Angst vor dem Ereignis, das nicht sein darf und damit alle Energien, an etwas Freundlicheres zu denken, aufsaugt. Der „Philosophie des letzten Worts“ fehlt die Flexibilität, die Qualitäten, die es zu retten gälte, in ein produktives Verhältnis zum Bedrohlichen zu setzen. Nach Günther Anders kommt das davon, daß die Bombe auch wirklich keinen Spaß versteht. Und Rudolf Burger antwortet mit einem Manifest gegen Erpressung durch Bombensicherheit. „Angst sollte man nur vor einem haben: vor dem Leuchten in den Augen der Propheten.“

Abregung und Aufregung halten einander auch hier die Wage. Konrad P. Liessmann nimmt in einer Erwiderung auf Burger in derselben Nummer des FORVM noch einmal Partei für theoretischen Extremismus. So offensichtlich, wie die Lähmung durch Rigorismus, ist die Tatsache, daß wir sie uns nicht ausgesucht haben. „…falsches Leben im Falschen, das sich, wenn nicht für das Richtige, so doch für das Mögliche hält – halten muß.“ Billiger als gegen den vernichtenden Urteilsspruch und rätselhafter als durch die selbst in diesen Umständen noch bemerkbare Zuversicht geht es nicht weiter. Nur Rhetorik kann beide Seiten zusammenhalten, das spricht nicht gegen sie.

Fuchsteufelswild

Fuchs und Teufel. Die einen wollen klug zu Werk gehen, die anderen mit aller Kraft kämpfen. Atomare Bedrohung ist nicht stark genug, zwischen ihnen Einigkeit herzustellen. Wie Diplomaten und Radikale miteinander wild werden können ist schleierhaft. Genauso undurchsichtig ist, ob Philosophinnen eher fromme Lügen über die Möglichkeit einer intakten Welt oder explosive Wahrheiten über die bereits ausgebrochene Katastrophe verbreiten sollen. Im Zweifel beides, halbwegs geschickt auf die Fassungskraft des jeweiligen M
ediums zugeschnitten. Es ist Zeit, nach der vorgetragenen Kreisbewegung selbst Stellung zu nehmen. Das Stabilste, was ich zustand bringe, ist dieser Wechselschritt.

Theoretiker quälen sich in Extremfällen mit der Dialektik, daß sie ein Feld einschränken wollen und dadurch immer schon weitere Aussichten eröffnen. Die Geschichte der in Tschernobyl am Unglückstag verfügbaren Dosimeter kommt ihnen sehr bekannt vor. Unmittelbar nach dem Zwischenfall war bloß ein Gerät zur Stelle, das maximal 1000 Mikroröntgen pro Stunde registrieren konnte. Das sind 4 Röntgen pro Stunde, eine Belastung, unter der jemand etwa fünf Stunden arbeiten kann. Auf die Frage, ob nirgends stärkere Instrumente aufzutreiben seien, antwortet der Dosimetrist: „Doch, wir haften ja ein Gerät bis 1000 Röntgen pro Stunde, aber das ist durchgebrannt. Das zweite ist im Kasten, und der ist abgeschlossen. Den Schlüssel hat Krasnoschon. Außerdem hab‘ ich schon nachgesehen, der Kasten ist im Schutthaufen. Da kommst du nicht mehr ran.“

Nach den Angaben Grigori Medwedews betrug die Radioaktivität zu diesem Zeitpunkt 5000-15000 Röntgen die Stunde. Kein Wunder, daß das vorhandene Dosimeter permanent Maximalausschlag zeigte. Angenommen Worte sind Zeigerstellungen, dann sieht es mit ihnen nicht viel anders aus. Sie rühren sich nicht von jener Stelle, die höchste Gefahr anzeigt, dennoch sind sie lächerlich inadäquat. Wie das disfunktionale Röntgenometer läßt man sie schließlich außer Acht. Nichtsdestoweniger teilen sie noch in ihrem Versagen mit, daß sich ein gröberes Unglück abspielt. Angemessen können sie es nicht darstellen, doch ihr Versagen ist selbst schon eine Darstellung.

Oft und sicherlich zu Recht ist betont worden, daß Berichte, die über eine ziemlich niedrige Erschütterungsschwelle hinausreichen, das tatsächliche Ausmaß des Vorgefallenen nicht richtig wiedergeben können. Unterschiede zwischen einer Handvoll Toten und hunderttausenden bestehen trotzdem. Der Irrtum ist zu meinen, Tod und seine Effekte könne man addieren wie Bruttonationalprodukte. Durch angefügte Nullen macht das Unfaßliche keinen größeren Eindruck in den Köpfen. Um hier voranzukommen bedarf es der Diplomatie. Der Teufel steckt bereits im Detail.

Es gibt ein Maß auch in der Überforderung; Erfahrungen, die eigentlich undenkbar sind. Auf normalen Kanälen nicht erreichbar, verlangen sie Diskretion. Eine glatte Zumutung, als ob das schreiende Elend nicht schon genug wäre. Aber dort, wo die Phantasie einer vertretbaren Reaktion auf Atomkatastrophen sich hinwagt, löscht der Jammer die indirekte Mitteilung nicht aus. Die Nerven zu behalten ist mehr, als man erwarten kann und doch nicht mehr, als unter Umständen auch in der schlimmsten Lage möglich ist. Dieser Wechselschritt ist eher ein Herumzappeln, ein Maximalausschlag, der zugleich erkennen läßt, daß das Gerät nicht einfach auf den Müll gehört.

Von sowas überhaupt zu reden ist Luxus. Der Hinweis ist kein Gegenargument. Der Mensch ist eine Art Lebewesen, die Überschuß notwendig hat. In feierlichen Anlässen wird das zur Transzendenz erklärt, in traurigen heißt es Gefaßtheit, Würde, Hoffnung. Die Analysen des Atomzeitalters gehen über fröhliche und triste Zustände hinweg, doch an dem einen Reglement kommen sie nicht vorbei. Wer sich Gedanken macht, mag arm dran sein, trotzdem leistet er sich eine kosmisch einzigartige Nebenbeschäftigung. Es ist unübersehbar, daß das verheerende Resultate hervorbringt. Genausowenig kann die Klage darüber auch nur anfangen, ohne damit zu liebäugeln, wie schön es hätte werden können.

Dieser Umstand treibt seltsame Blüten. In Anfällen von Selbstbestrafung fegen Poeten die menschliche Existenz von der Erde. Theoretiker assistieren, daß wir nicht wert sind, die Balance der Natur zu unseren Gunsten zu zerstören. Was dabei übersehen wird ist, daß es ohne Gedanken keine Balance gibt. Es ist nicht möglich, an den Untergang zu denken, ohne damit einen kleinen Ursprung in die Welt zu setzen. Die Aufgabe einer Ethik im Atomzeitalter besteht darin, diesem bescheidenen Anteil an der Schöpfung Aufmerksamkeit zu widmen.

In diesen Überlegungen klingen beschwörende Untertöne mit. Der Anschein entsteht, als wollte ein Philosoph sich mit besonders ausgefuchsten Mitteln noch eine Schnitte Sinn abschneiden. Davon hätte kaum jemand etwas. Die gedankliche Anstrengung verfolgt eine andere Pointe. Der Luxus, der sich in solchen Reflexionen niederschlägt, ist der Mehrzahl der Erdbevölkerung verwehrt. Das bildet einen wesentlichen Risikofaktor zukünftiger Entwicklungen. Die ungerechte Verteilung des Ressourcen blockiert die Anwendung der alten westlichen Vernunftprinzipien.

Was dann oft übrigbleibt ist Dreinschlagen und Scham.

Dazwischen reibt sich der gute Wille zur Ethik leicht auf. Richtige Wutausbrüche lassen sich nicht organisieren, darum bleiben die fuchsteufelswilden Antworten auf das Management des Verderbens sporadisch. Ihm eine wohlgerüstete Verwaltung des Friedens entgegenzustellen ist unerläßlich und driftet sofort in Richtung noch mehr Bürokratie.

Ich bin einmal dem Vorsitzenden des Vereins ehemaliger Mauthausen-Häftlinge begegnet. Seine Sorge war, daß die Lehrergewerkschaft es ihren Mitgliedern verbietet, am Wochenende Schüler durch die Gedenkstätte zu führen. Ein Meister des Entsetzens zweiten Grades. Der nuklearen Bedrohung gegenüber sind wir die meiste Zeit genauso hintennach. Fünf Jahre oder die paar Stunden, bis die Meldung vom nächsten Störfall über die Nachrichtenagenturen kommt. Man muß den Kopf hinhalten, damit etwas Vernünftiges aus ihm herauskommt. Vielleicht ist das ein verstiegener Wunsch; wahrscheinlich ist es trotzdem eine Hilfe.

LITERATUR

Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. Band 1. München 1988. Hanser

Günther Anders: Anders ruft Torberg. Friedrich Torberg: Falsch verbunden. In: FORVM 11/126-127 (1964) S.306ff

Rudolf Burger: Die Philosophie des Aufschubs. In: FORVM 37/444 (1990) S.16ff Jaques Derrida: Apokalypse. Wien 1985. Edition Passagen 

Dieter Henrich: Ethik  zum nuklearen Frieden. Frankfurt 1990. Suhrkamp

Konrad P. Liessmann: Der Aufschub der Philosophie. In: FORVM 37/444 (1990) S.19ff

Grigori Medwedew: Verbrannte Seelen. Die Katastrophe von Tschernobyl. München – Wien 1991. Hanser

Ernst Tugendhat: Nachdenken über die Atomkriegsgefahr und warum man sie nicht sieht. Berlin 1986. Rotbuch Verlag

 

Ludwig Wittgenstein: Vortrag über Ethik. Frankfurt 1989. Suhrkamp

 

© Herbert Hrachovec

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