Herbert Hrachovec: Sätze sezieren

Was machen Philosophen in den Medien? Seltsame Dinge. Sie schreiben Leitartikel aus akademischer Distanz. Sie erwecken den Anschein, zu allen Aktualitäten einen Kommentar parat zu haben, und klagen im kleinen Kreis über die Flüchtigkeit der Leserschaft. Und was tun Philosophinnen außerhalb der Medien? Verschiedenes, das ebenso wenig in die Zeitung gehört, wie die Vorbereitung der Frühjahrskollektion oder ein Gespräch beim Rechtsanwalt. Diese alltägliche Philosophie erweckt erst dann öffentliches Interesse, wenn jemandem ein Preis verliehen wird oder ein Bestseller zu vermelden ist.

Eine kleine Sensation gab es die letzten beiden Wochen in Wien. Donald Davidson, einer der einflußreichsten US-amerikanischen Philosophen, der — zusammen mit seinem Lehrer W.v.O. Quine — Generationen von Studentinnen und Studenten geprägt hat, hielt eine Reihe von Vorträgen an der Wirtschaftsuniversität. Auf Initiative von Gabriele Mras war es gelungen, ihn für eine Gastprofessur zu gewinnen. Vergleichbar wäre ein Konzert Leonard Bernsteins, eines Studienkollegen Davidsons an der Harvard University, gewesen. Anlaß zu Aufmerksamkeit, sollte man meinen. Aber die sonst so beredten Philosophen schweigen. Ein Bekannter versichert mir, daß er keine Chance sieht, beim Rundfunk einen Bericht über das Ereignis unterzubringen. Es gibt zwei Arten Philosophie, eine für den Tagesgebrauch der Massenmedien und eine andere, die nach Denkarbeit für Jahrzehnte mißt.

Nun sind Donald Davidsons Arbeiten allerdings das genaue Gegenteil einer Aufsehen erregenden Theorie. Sie kreisen um Sachkomplexe wie „Materie und Form“, „Handlung“, „Bedeutung“ und „Wahrheit“ — alles Themen, die seit den Griechen das Fach bestimmen. Man könnte meinen, daß diese klassischen Fragen erschöpft und nurmehr historisch interessant sind. Davidson hat ihnen unerwartete neue Aspekte abgewonnen. Selbst die besten Maschinen sind nach einigen Jahren obsolet; die besten Gedanken sind erstaunlich langlebig. Sie sitzen tiefer, als Suchmaschinen ansteuern können.

Die Vortragsreihe Davidsons trug den Titel „Probleme der Prädikation“. Sicherlich kein Knüller, aber ein Paradebeispiel dafür, wie tief philosophische Untersuchungen gehen. Schlagzeile: „Die Aliens sind mitten unter uns“. Übersetzung zum wissenschaftlichen Gebrauch: „Prädikation ist ein fremdartiger Fachausdruck, aber er betrifft das Leben, das wir täglich führen.“ Es besteht zu einem guten Teil aus Sätzen, die Behauptungen mitteilen. Wie funktionieren die? Dazu ist viel zu sagen, doch eine Grundlage ist sicher, daß einer Sache Eigenschaften zugesprochen werden. „Leonard Bernstein war Komponist“. Diese Prädikation macht die Worte interessant. Sie informiert über einen Sachverhalt. Wenn man die einzelnen Ausdrücke getrennt betrachtet, stellt sich dieser Effekt nicht ein.

Die Prädikation bewirkt den Unterschied zwischen Listen und Sätzen. Aktienkurse sind Tabellen; sie allein können den Finanzmarkt nicht beschreiben. Eine Expertin muß aus der Liste Sätze machen, um damit arbeiten zu können. „Die Werte von Wienerberger sind gestiegen“. Tabellen lassen sich erweitern oder aktualisieren, ein Satz dagegen behaupten oder bestreiten; damit eignet er sich zur kommunikativen Auseinandersetzung. Der Austausch von Daten ist das eine, die Argumentation über Behauptungen das andere. Die Untersuchung des Behauptens reicht an die Wurzeln des vernünftigen Umgangs von Menschen miteinander. Bekanntlich verläuft der alles andere als reibungslos. Die philosophische Sichtweise wirft ein Licht auf die Schwierigkeiten.

Angenommen, die Worte „Leonard Bernstein“ und „war Komponist“ stehen auf einer Liste untereinander. Die erste Zeile bezieht sich auf eine Person, darauf kann man sich leicht einigen. Aber worauf zeigt das Prädikat? Wer ist alles Komponist? Darüber gibt es eher Streit. Ob alle Komponistinnen der Welt etwas gemeinsam haben, ist keineswegs ausgemacht. Wer hat das Recht, das Prädikat für sich in Anspruch zu nehmen? Mit der Analyse des Weltbezugs von Prädikaten greift die Philosophie in die Debatte ein, was Behauptungen sachlich begründet. Das „Problem der Prädikation“, das Davidson diskutiert, läßt sich jetzt verdeutlichen.

Wenn Subjekt und Prädikat im Satz sich in gleicher Weise auf die Wirklichkeit beziehen, besteht die Welt aus konkreten Dingen und zweitens aus Gegebenheiten, deren Status nicht so klar ist. Welche Rolle spielt der Begriff des Komponisten in Anwendung auf Bernstein? Man sagt, Bernstein besitze die Eigenschaft, Komponist zu sein. Aber die ist nirgendwo zu sehen und was heißt in diesem Zusammenhang „besitzen“? Genau dieser Besitzanspruch löst oft Konflikte aus. Es gibt anspruchsvolle Theorien, die den Sprecherinnen Einsicht in eine „Begriffswelt“ zuschreiben. Ausgestattet mit dieser Fähigkeit können sie ihre Behauptungen beruhigt in der Wirklichkeit verankern. Andere, skeptischere Ansätze bezweifeln das Recht, sich derartig auf Begriffe zu stützen.

Donald Davidson legte Überlegungen vor, die darauf zielen, die Zuschreibung von Eigenschaften, also das Charakteristikum von Sätzen, ohne Rückgriff darauf zu erklären, daß in der Welt Formen vorgegeben sind, denen wir entsprechen müssen. Sie lassen sich nicht verbal erfassen und in Sätzen mit den ebenfalls erfaßten Dingen synthetisieren. Davidson verfolgte das in die technischen Details der sprachanalytischen Tradition. Sie gehört zur Philosophie, wie sie täglich praktiziert wird. Unzählige Sätze umgeben uns. Viele teilen etwas mit, nur wenige sind aktuell.