Digitalmacht: Blaue Augen, Blaue Flecken


Herbert Hrachovec


Anfangs waren Computer riesige Kästen und füllten ganze Zimmer. In
absehbarer Zukunft werden sie unauffällig in Alltagsabläufe
integriert sein. Gegenwärtig stehen die meisten auf Schreibtischen
oder anderen Arbeitsplätzen. Sie erfüllen u.a. die Funktionen von
Notizheften, Rechenmaschinen, Zeichengeräten und Faxmaschinen;
Datenerfassung, Informationsmanagement, Organisation. Keine dieser
Tätigkeiten ist Bewegungssport. Administrative Beschäftigung
verlangt Ärmelschoner und Ortsansässigkeit. Warum beklagen sich die
Leute eigentlich, daß im Umgang mit Computern der Körper zu kurz
kommt?


Schach, sowie verschiedene Patiencen, existieren
in greifbaren und digitalen Varianten. In beiden Fällen sitzen die
Beteiligten an einem Tisch und manipulieren Symbolträger. Fußball
dagegen braucht Platz und Bewegung, die physische Teilnahme mehrerer
Personen. (Das gilt auch noch für ,,Tischfußball„.) Offenbar
unterscheidet sich die Digitalisierung der Verläufe eines
Kartenspiels an einem wichtigen Punkt von Fußball als Videogame. Der
Joystick repräsentiert die Bewegungsmöglichkeiten auf der Konsole,
er könnte auch Schachfiguren verschieben. Aber beim Video-Fußball
handelt es sich um Eingriffe in audio-visuell umgesetzte
Programmabläufe, die tatsächliche Bewegungung von Menschen
simulieren. So entsteht der Eindruck, daß man durch Druck und Rucken
einem Ball nachjagt. Der Computer scheint das Potenzial lebendiger
Fußballspieler in sich einzusaugen.


Dieser Eindruck hat eine systematisch hochinteressante
Leichtgläubigkeit zur Voraussetzung. Die programm-generierten
Abläufe müssen als Äquivalent der Vorgänge auf dem grünen Rasen
wahrgenommen werden. Es gibt genügend Hinweise darauf, daß es sich
um grundverschiedene Bereiche handelt; aber der Spaß am Spiel liegt
gerade darin, auf diese Unterschiede zu verzichten und so zu tun,
als wäre ,,ich„ das steuerbare Schema eines Mittelstürmers am
Display. In diesem Transfer ,,verschwindet„ die Identität der
Einzelperson auf ähnliche Weise wie im Theaterspiel oder auf der
Achterbahn. Individuen, die sich auf solche Inszenierungen
einlassen, kommt der Körper keineswegs abhanden, doch die Szene
lenkt ihre Reaktionen in ein anderes Bezugssystem. Das Lächeln
gehört nicht mehr zur Frau N.N., sondern zur Rolle; der Torschuß ist
ein Bildeffekt.


Wir haben es im digitalen Raum nicht mit Immaterialität im strengen
Sinn, sondern mit der Kanalisierung unserer senso-motorischen
Anlagen in spezielle Projektionsmedien zu tun. Computer
unterscheiden sich von anderen Schreibtischgeräten dadurch, daß sie
künstliche Welten generieren können. Doch in denen wird unsere
Bewegung nicht eliminiert. Schärfer: Um in diesen Konstrukten
überhaupt navigieren zu können, ist ein ständiger Bewegungsnachschub von
außen nötig. Vorstellungen darüber, wie im Realfall reagiert würde,
liegen der Manipulation des Eingabe-Knüppels zu Grunde. Die
Steuerung von ferngelenkten Robotern oder die Mikrochirurgie
basieren auf Bewegungsmustern, die lebensweltlich plausibel sein
müssen. Die Frage kann demnach nicht sein, wo unser Körper hin
verschwunden ist. Sie heißt: In welcher neuartigen Umgebung macht er
sich wieder bemerkbar?


Das Internet ist um Größenordnungen lebendiger, inhaltsreicher und
chaotischer als Vergnügungssoftware. ,,Ballereien im Weltall„ werden
leicht langweilig. Die globale Vernetzung von Computern macht
Cyberspace interaktiv und ohne Münzeinwurf interessant. Telefone und
Fernsehübertragungen haben sich schon länger über das Prinzip der
Ortsansässigkeit hinweggesetzt. Das Computernetz revidiert einige
zusätzliche Körperqualitäten. Ich greife drei heraus. Über geeignet
eingerichtete Kanäle können Befehle ausgeführt werden; im Prinzip
sind elektronische Signale mit ungeheurer Geschwindigkeit unterwegs,
aber die Leitungen machen oft nicht mit; der automatisierte digitale
Austausch von Botschaften zwischen den Mitgliedern einer Gruppe
schafft neue Sozialstrukturen. In allen drei Beispielen sind Körper
einbezogen. Sie werden vom Geschehen im Internet affiziert.


Macht erzeugt Sinnlichkeit, obwohl und gerade weil sie sich über die
materielle Basis stellt. Pornographie nützt den Zusammenhang
systematisch. Erregend ist der Umstand, daß der Konsument die
Entblößung kontrolliert und selber unbelangbar bleibt. Es klingt
nach Widerspruch, ist aber eine Beschreibung der Logik des
Körpergefühls: gerade die Distanz zum Begehrten macht Lust. Ein
gewisses Maß an Unsinnlichkeit ist Bedingung für die scheinbar
naturwüchsig ablaufenden Leibfunktionen. Computer, die in einem Netz
verbunden sind, bieten weit über bisherige
Kommunikationstechnologien hinausreichende Gelegenheiten der
Machtentfaltung. Sie transportieren Befehle, die an entfernten
Stellen automatisch ausgeführt werden. Die Verfahrensweise ist
unspektakulär bis ungeheuerlich. Sie reicht vom Abruf
bibliographischer Information aus der Universitätsbibliothek bis hin
zur Zündung von Atombomben. Meistens ist die Rede von den Effekten,
aber für gewöhnlich löst sie jemand aus.


Vor dem Computer zu sitzen, ist mit Fernsehen kaum vergleichbar.
Befehle und Programmsequenzen, die dieses Steuerungsgerät
verarbeiten kann, greifen auf entlegene Rechner in unbekannten
Umständen zu. Der Erfolg einer telematischen Transaktion definiert
die Ausführenden als Herrscher in der digitalen Landschaft. Die
kurze Zeit, in der ein Kommando abgeschickt ist und im Ungewissen
schwebt, bündelt einen intellektuellen Einsatz. Das Fachwissen der
Benützer hat sich auf eine Formel zugespitzt, ihr Erfolg erinnert an
Orgasmus. Die Spannung löst sich, das Verfahren läuft, der Aufwand
hat sich gelohnt.


Umgekehrt erzeugen Computer aus denselben Gründen
Abscheu. Ein Staubsauger läßt sich nur wenig sagen und erregt darum
auch selten Wut. Die Frustration, wenn der Rechner den Befehlen
nicht ,,gehorcht„, ist die Kehrseite des Triumphgefühls. Auch sie ist
mehr als ein isolierter psychischer Zustand. Wer sie nicht als
integrales Körpergefühl zuläßt, verspielt eine Möglichkeit, auf das
Geschehen zu reagieren. Es ist wie bei einer Flugreise. Ich bin
körperlich anwesend, allerdings anders, als wenn ich denselben Weg
zu Fuß zurücklegen würde. Weltweite Funktions- und
Herrschaftszusammenhänge komprimieren sich in wenige Bewegungen. Man
kann besorgt sein, daß sie überfordert sind. Ihr Vorhandensein ist
nicht zu leugnen.


Ein Hebel bricht oder das Feuerzeug funktioniert nicht. Der Rückstoß
trifft den Benutzer. Statt in vorgesehenen Abläufen aufzugehen,
steht er alleine da. Im Befehl auf Distanz wird der
Unsicherheitsfaktor euphorisch überwunden, das Scheitern eines
eingespielten Zusammenhanges produziert, im Gegensatz dazu,
isolierte Individualität und mit ihr einhergehende Beschwerden. Sie
sind umso ärgerlicher, je stärker die Identifikation mit der
vorhergehenden Ordnung ausgefallen war. Auf diese Weise fallen
Netz-Surfer regelmäßig auf die Nase. Aus der Begeisterung über den
globalen Zugriff stürzen sie in unterbrochene Verbindungen,
überlastete Maschinen und ungültige Adressen ab. Wie Macht ist
Ohnmacht physisch greifbar.


Die Usenet-Gruppe at.network.aconet bietet eine interessante Lektüre. Sie
registriert täglich, wo – im Jargon – ,,der Bagger wieder einmal in
das Kabel gefahren ist„. Die Hardware, auf der die
Informationsgesellschaft aufbaut, ist für vielfältige Störungen
anfällig. Im Datentransfer erzeugt das Ausfälle und Grauzonen, in
denen unklar bleibt, ob eine Übertragung verlangsamt, zeitweise
unterbrochen, oder bereits ausgefallen ist. So sieht die Kehrseite
des Abhängigkeitsverhältnisses von telematischen Maschinen aus. Was
soll die leere Zeit, die plötzlich im Bereich der
Überschallgeschwindigkeit ausbricht? Sie ist schlecht anderswo
verwendbar. Der Apparat läuft nicht nach Wunsch, doch er entläßt
seinen Klienten nicht aus dem Bann. Diverse Pausenzeichen, Uhren,
laufende Tiere und Spiralen sollen den Ausfall überbrücken. Wenn
Fernbefehle etwas von Orgasmus haben, erinnern solche
Unterbrechungen an ein Koma. Der Körper lebt noch, aber er ist
unfähig, sich zu bewegen. Das Zeitgefühl, das die Schnellverbindung
suggerierte, stülpt sich um.


Die ersten zwei Beispiele betrafen Einzelpersonen, die sich in die
Zirkulation von Daten einklinken. Sie können ihren Willen
durchsetzen oder durch die Maschen des Netzes fallen, beides hat
psychosomatische Effekte. Doch Individuen sind immer auch soziale
Wesen. Selbst wo sie sich als vereinzelt erfahren, bestimmen sie
sich mit Bezug auf gesellschaftliche Zustände. Die Beschreibung der
Körper, die am Netz hängen, hat beinahe unwillkürlich aggressive
Momente hervorgehoben. Computer werden auf weite Strecken als
Herrschaftsinstrument verwendet. Kein Wunder, daß sie die bekannten
Symptome der Macht und des Machtverlustes reproduzieren. (Der
entthronte König ist ein Zeichen irdischer Vergänglichkeit.) Das muß
nicht sein. Die digitale Sphäre gibt Raum für neuartige
Kooperationsformen. Auch aus ihnen läßt sich Sinnlichkeit gewinnen.
Ein Blick in Spielhallen oder in Rechenzentren kann zur Annahme
verleiten, diese Technik wäre ausschließlich für Kampfspiele
geeignet. So einfach ist die Sache nicht.


Nochmals ein Seitenblick auf’s Fernsehen. Dort ist die Rede von der
,,Sehergemeinde„ eher ein Trick, als eine passende Beschreibung. Die
hierarchische Organisation der Sendeanstalten fixiert die
Rezipienten auf ihre Sofas. Gegenwärtig – und auf absehbare Zeit –
bietet die computer-unterstützte Kommunikation bedeutend bessere
Bedingungen zur Konstruktion sozialer Zusammenhänge. Das Internet
ist ein öffentlicher Raum, der allen Beteiligten symmetrisch aktive
Kontakte erlaubt. Das Monopol der Staats- und Wirtschaftsanbieter
greift nicht, mit etwas technischem Geschick kann jede Teilnehmerin
Informations-Server betreiben. So wie es einen Unterschied macht, ob
jemand auf einer Großveranstaltung als ,,Masse„ definiert wird, oder
sich in einer Gruppe artikuliert, differiert der Abdruck, den ein
Fernseher oder ein Monitor auf seinem menschlichen Antipoden
hinterläßt.


Elektronische Diskussionsforen bestimmen die Teilnehmerinnen und
Teilnehmer als Sozialverband, der einigen bemerkenswerten Regeln
folgt. Ohne jede Information über körperliche Eigenheiten können die
Mitglieder rasch, unbeschränkt und quasi intim Mitteilungen
austauschen. Das erzeugt erstens einen Textkörper, Identität im
Rahmen eines Universums, das auf der Transmission binärer Impulse
basiert. Zweitens stellen sich unweigerlich Rückwirkungen auf die
vor dem Bildschirm zurückgelassenen Personen ein. Worte, die sie
schreiben, richten sich an Menschen, die zwar unsichtbar, doch
keineswegs anonym sind. Man spricht nicht zu Bekannten und schreibt
auch nicht ins Unbestimmte, wie beim Verfassen eines Beitrages für
den SUPERVISOR. Die Adressaten sind registriert und reagieren (in
lebendigen Gruppen) täglich auf den Diskussionsverlauf. Nicht nur,
daß häufig Post kommt – entscheidend ist darüber hinaus, daß ich von
allen weiß, die gleichzeitig dieselbe Post bekommen. Sie wissen
dasselbe von mir. Identität entsteht durch wechselseitige
Anerkennung, sie greift aus den digitalen Verläufen auf die externe
Seite der Schnittstelle über.


Selbst im galoppierenden Fortschritt werden nur wenige
Erfahrungsmöglichkeiten restlos aufgelöst. Die Reisenden, die
überfüllte Strände in Spanien beklagen, könnten in weniger populären
Gebieten ganz alleine sein. Der eigentliche Schmerz besteht darin,
daß die erwartete Qualität nicht mehr an einer bestimmten Stelle zu
finden ist. ,,Früher hatte man es mit Menschen aus Fleisch und Blut
zu tun, heute sind das nurmehr elektronische Signale.„ Antwort:
Fleisch und Blut alleine machen keinen Körper. Elektronische Signale
können gar nicht so abstrakt sein, daß sie keine Wirkung auf die
Physis hätten. Vielleicht ist sie unerwünscht. Der erste Schritt,
daran etwas zu verändern, ist die Frage, in welche Kommandoposition
unsere Sinnesorgane unversehens gerutscht sind.