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Analyse

Nach Husserl kann eine Schülerin ab einem bestimmten Zeitpunkt wissen, was die Addition ist. Sie hat, wie man sagt, die Idee begriffen. In Wittgensteins Alternativschule stellt sich das anders dar. Ihr Lehrer ist mit dem Problem konfrontiert, daß jemand, der die Folge ,,0, 2, 4, 6 ...`` bis 1.000 erwartungsgemäß aufgeschrieben hat, plötzlich mit 1.004, 1.008, 1.012 fortsetzt. Was ist da schiefgegangen? Husserl würde so antworten, wie der verblüffte Lehrer: Die Kandidatin hat nicht verstanden, was die betreffende Reihe ausmacht und mittendrin das Bildungsgesetz gewechselt. Die Reaktion zeigt unseren Alltagsplatonismus und Wittgenstein legt seine Schwäche bloß.

Du hast also zur Zeit, als du den Befehl ,+2` gabst, gemeint, er solle auf 1.000 1.002 schreiben - hast du damals auch gemeint, er solle auf 1.866 1.868 schreiben, und auf 100.034 100.036, usf. - eine unendliche Anzahl solcher Sätze? gif

Die Auseinandersetzung steuert darauf hin, ob eine solche Reihe durch den Anfang und die Regel ein- für allemal bestimmt sei. Wittgensteins Gesprächspartner könnte Husserl heißen: ,,Nein, ich habe gemeint, er solle nach jeder Zahl, die er schreibt, die zweitnächste schreiben; und daraus folgen ihres Ortes alle jenen Sätze.`` gif Die Antwort enthält Wittgensteins entscheidenden Einwand gegen alle Versuche, sich Regeln als ,,unendlich lange Geleise`` gif vorzustellen, die jede Abweichung von vorneherein ausschließen.

Aber es ist ja gerade die Frage, was, an irgend einem Ort, aus jenem Satz folgt. Oder auch - was wir an irgend einem Ort ,Übereinstimmung` mit jenem Satz nennen sollen (und auch mit der Meinung, die du damals dem Satz gegeben hast, - worin immer diese bestanden haben mag.) gif
Ich übersetze das in ein Argument gegen die Urstiftung und die Geschichte, die sie notgedrungen involvieren soll.

Das metaphysische Extemporieren wird vom Verantwortungsbewußtsein angesichts der Krise des europäischen Denkens geleitet. Der Theoretiker ,,nimmt auf, was er in der Geschichte und als seine Geschichte vorfindet, womit zu brechen oder liederlich umzugehen ihn des Horizonts sinnfähiger Handlungen berauben müßte.`` gif Indem er die Direktive der Initialsituation übernimmt, gewinnt er eine Basis und eine feste Bestimmung für sein Leben, inklusive aller Zwischenstationen, an denen er der Reihe nach Halt macht. Er weiß nicht, was werden wird, aber er kann sich sicher sein, daß Geschehenes nicht ungeschehen zu machen ist. Dramatisch ausgedrückt: Die Weltgeschichte ist das Weltgericht. Das Vorbild einer solchen Position ist die Zahlenreihe, deren Elemente sich - einmal in Position - nicht mehr entfernen lassen.

Um dieser ,,Logik`` zu entgehen, kann man das ganze Voraussetzungspaket verweigern. Wittgensteins Verfahren ist eindringlich, weil er sich zunächst einmal auf den Alltagsplatonismus einläßt. Der Lehrer meint, es wäre selbstverständlich, daß alle seine Worte - wenn überhaupt - wie er verstehen. Zu seiner Überraschung muß er dann feststellen, daß er nichts in der Hand hat, um abweichende Verstehensansätze, die auf denselben Daten aufbauen, auszuschließen. Saul Kripke hat das so formuliert: Angenommen eine Addition und eine ,,Quaddition``, die entsprechend dem unerwarteten Verhalten des Schülers definiert wird. Dann kann der Lehrer, der die ganze Zeit zu addieren glaubt, für die Fälle vor der Meinungsverschiedenheit nicht begreiflich machen, inwiefern er nicht quaddiert. Keine der beiden Seiten verfügt über Tatsachen, die ihre Version als die legitime Fortsetzung eines Anfangssegments der Reihe ausweisen könnten. Ein schwerer Schlag gegen die Konstruktion homogener Erfahrungen.

,,2+3`` ist in einer geeignet gewählten Nichtstandard-Interpretation offensichtlich 8. Nur innerhalb eines vorausgesetzten Sinn- und Handlungszusammenhanges lassen sich Vorkommnisse als bestimmte Fakten interpretieren. Man kann es schärfer sagen: Fakten sind nicht mehr, als in einem Verstehenshorizont konstituierte Fixpunkte. Auf die Wittgensteinsche Probe gestellt, erweisen sie sich als substanzlos. Es besteht keine Notwendigkeit, eine Menge von Inputs als dieses Faktum zu verarbeiten. Quine und Davidson sind auf einem anderen Weg zur gleichen Demontage des ,,Museumsmythos der Bedeutung`` gekommen. Dann greift die Anstrengung, wenn schon nicht die Zukunft, doch zumindest das manifeste Vergangene aus der Ungewißheit herauszunehmen, ins Leere. Was derart sicher sein soll, hat keinen fixen Inhalt. Sicherlich kann man über vieles, was in der Zeit zurückliegt, sprechen. Für jeden einzelnen Versuch, sinnvoll im Weltablauf zu agieren, gilt weiter, daß er seine Fakten herstellt und sich auf sie stützt. Doch diese ,,Fakten`` verlieren, sobald sie umstritten werden, die selbstverständliche Überzeugungskraft.

Wittgenstein weist darauf hin, daß wir das Wissen, wie eine gegebene Regel in Zukunft ausgelegt werden wird, nicht in der Tasche haben. Dementsprechend gibt es ein Problem, wenn sich zwei Parteien nicht (mehr) darüber einig sind, wie eine Regel, auf die beide sich berufen, anzuwenden ist. Gesellschaftliche Auseinandersetzungen führen ständig zu solchen Streitfällen, Wittgenstein forciert die Einsicht, daß selbst die Mathematik - eine Hochburg des Platonismus - von ihnen nicht ausgenommen ist. Er dreht die Husserlsche Fundierungsrichtung um und erhält keine anderswo aufruhende Basis, sondern ein osaik wechselnder sozialer Prozesse. Jeder Versuch, zumindest die Gewesenheit von Fakten außer Streit zu stellen, scheitert daran, daß in ihm keine Einigkeit darüber zu erreichen ist, was denn gewesen sein soll. Wittgensteins Argument läuft parallel zu seiner Kritik am cartesianischen Dualismus, den Blumenberg nicht umsonst mit dem Gesamtprojekt europäischer Kultur assoziiert.

Der Gedanke der ,Urstiftung` ist von dieser Voraussetzung einer homogenen Geschichte und ihres raumzeitlich verbundenen und gebundenen Subjekts nicht zu trennen. gif
Auf beide ist, so hat sich herausgestellt, nur sehr bedingt Verlaß.


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hh
Tue Aug 27 21:32:05 MET DST 1996