Obwohl das Phantom überzeitlich existierender Fakten zurückgewiesen worden ist, bleibt eine Frage offen. Wie können wir, wenn Wittgensteins skeptischer Einwand zutrifft, denn zumindest innerhalb der festgestellten Grenzen wissen, was wir meinen? Saul Kripke, der für seine Behandlung dieses Dilemmas von vielen Seiten kritisiert worden ist, hat dennoch einen entscheidenden Punkt berührt. Wittgenstein muß einen Weg zwischen der Widerlegung des Bedeutungsplatonismus und einem flachen Pragmatismus finden, der die Befunde unseres Sprachgebrauchs in die Gegenrichtung verzerrt. In zentralen Fällen sind wir nämlich unseres Verständnisses sicher, selbst wenn wir daraus keine metaphysische Wahrheit machen dürfen. Das läßt sich nicht auf Abrichtung und Gewohnheit reduzieren. Ich lese Wittgenstein als einen Autor, der meta-empirische Gewißheiten nicht ablehnt, sondern sie gegen unsere Hypostasierungstendenz im Gefüge der Sprache lokalisiert, dort aber in ihrem Recht beläßt. Seine Kritik gilt nicht der Selbstsicherheit des Lehrers, sondern der Art und Weise, wie er sie verteidigt.
In den ,,Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik`` versucht Wittgenstein, den Überschuß an Sicherheit, den wir gewöhnlich in einfachen Additionen finden, positiv zu erfassen.
,,Soll es kein Erfahrungssatz sein, daß die Regel von 4 zu 5 führt, so muß dies, das Ergebnis, zum Kriterium dafür genommen werden, daß man nach den Regeln vorgegangen ist.`` ,,Die Wahrheit des Satzes, daß 4+1 5 ergibt, ist also, sozusagen, überbestimmt. Überbestimmt dadurch, daß das Resultat der Operation zum Kriterium dafür erklärt wurde, daß diese Operation ausgeführt ist.``Zur Behauptung eines Satzes sind wir also nicht bloß dadurch befugt, daß wir uns bis zum nächsten Mißverständnis nach einer Regel halten. Das erklärt nicht, wieso wir uns in einigen Fällen bei Unstimmigkeiten nicht zurückziehen. An manchen Sätzen ist mehr dran und das verhält sich so: Sie zu beurteilen bedeutet nicht, ihre Korrektheit mit Hilfe eines anderswo vorhandenen Kriteriums zu prüfen. Das mag der Normalfall sein, doch in unserer Sprache gibt es Äußerungen, mit denen wir ein doppeltes Spiel spielen. Erstens verwenden wir sie für faktische Behauptungen, zweitens jedoch zur Festlegung des Maßstabs, an dem Behauptungen der ersten Art gemessen werden. Wer das Pariser Urmeter abmißt, muß darauf kommen, daß es einen Meter lang ist. Oder, in einer bildlichen Formulierung: ,,Wir haben dem Pförtner den Befehl gegeben, nur Leute mit Einladungen hereinzulassen und rechnen nun darauf, daß dieser Mensch, der hereingelassen wurde, eine Einladung hat.``
Der Status derartiger Sätze ist umstritten. Sie drücken synthetisch-a priorische Wahrheiten aus. Soll man sie in einer logisch gut organisierten Sprache dulden? Es scheint mir blanker Dogmatismus, zu leugnen, daß wir Sätze auch so verwenden können. Sie a priori auszuschließen ist ähnlich einfallslos, wie Paradoxien unter allen Umständen zu verbieten. Für diesen Vortrag läuft das auf die Frage hinaus, ob sich das Dogma der facta non infaciundi auf die angedeutete Weise paraphrasieren läßt. Und siehe da, Blumenberg bringt das Kunststück zuwege, Husserl mit Wittgenstein zu synthetisieren.
Einmal vollzogene Anschaulichkeit ist nicht wieder aus der Welt zu schaffen, sofern Identität der Bezugsnahme auf sie zur ,Geschichte` des Begriffs selbst wird.Damit akzeptiert Blumenberg einerseits, was Wittgenstein über die Doppelrolle eines Inhalts als Behauptung und Kriterium zur Beurteilung der Behauptung sagt. Andererseits reklamiert er die sprachstrategische Doppelbödigkeit auch für die phänomenologische Intuition. Für sie soll ebenfalls gelten, was Wittgenstein der Mathematik zugesteht, nämlich daß sie unter bestimmten Umständen ihre eigene Rechtfertigung vornehmen kann. Der Schwachpunkt der Synthese springt ins Auge. Auf der einen Seite handelt es sich um Sätze, auf der anderen um ,,vollzogene Anschaulichkeit``. Letztere bräuchte nach Husserls Programm keine weitere Qualifikationen. Blumenbergs ,,sofern`` führt Wittgensteins Analyse in einen Sachverhalt ein, der ihrer angeblich gar nicht bedarf.
Hier sehe ich keine weitere Annäherungsmöglichkeit. Für unser Thema gibt aber auch diese Pattsituation etwas her. Wer behauptet, etwas Geschehenes sei als Geschehenes ,,nicht wieder aus der Welt zu schaffen``, hängt nicht einfach einem Traum nach. Die Formulierung facta infecta fieri non possunt ist auch keine inhaltslosse Tautologie. Sie besagt mehr, als daß im Sinn des Gewesenseins das Gewesensein liegt. Der Satz hat eine komplexere Verwendung, als die phänomenologische Wesensschau oder aber der logische Empirismus zugestehen. Er vermittelt einen Gestus bedingter Unerschütterlichkeit. Naiv gesagt: ,,Was liegt, das pickt``. Fachgerecht ausformuliert: Wo ein Schritt im Spiel zur Bedingung dafür gemacht wird, daß ein bestimmtes Spiel gespielt wird, ist es widersinnig, das eine ohne das andere zu denken. So und so vorzugehen heißt eben, dieses Spiel zu spielen. Eine Geschichte zu haben bedeutet, bestimmte Tatsachen als unerläßlich anzusetzen. Garantiert das die Sicherheit, die der lateinische Spruch ausstrahlt? Es dürfte klargeworden sein, daß er einer sprachanalytischen Revision zu unterziehen ist. Ich hoffe aber auch gezeigt zu haben, daß diese Beschäftigung nicht unbedingt darauf hinausläuft, ihn kleinzukriegen.