Wenn Fachleute sich über ihre Arbeit streiten, geht es um Fragen des Stils, des Handwerkszeugs, bisweilen auch um philosophische Intuitionen. Vorausgesetzt wird immer, daß beide Seiten sich auf ein Minimum technischer Kompentenz verständigt haben, sonst wäre es kein Streit innerhalb einer Disziplin. Einsprüche von außen ändern die Rollenverteilung. Physikerinnen, Historiker und Soziologinnen können etwas zu mathematischen Themen beitragen, ohne die Fachsprache im Detail zu beherrschen. Der interdisziplinäre Meinungsaustausch verschiebt etablierte Theorien in unerwartete und lehrreiche Kontexte. Das Gesprächsmuster, mit dem die klassische Philosophie operiert, ist davon jedoch streng zu unterscheiden. Ihr geht es nicht darum, gleichsam am runden Tisch Erfahrungen auszutauschen. Sie vertritt starke Thesen darüber, was Wissenschaftlichkeit überhaupt ausmacht und worin die rationale Grundausstattung des Menschen besteht. Ihre Auffassungen treten gewöhnlich mit dem Anspruch auf, für alle Gesprächsteilnehmerinnen zu gelten. Die Vorstellung vom Tribunal der Vernunft ist nicht mehr aktuell, doch um Beförderung und Verwaltung des gemeinsamen Konsens' der vertretenen Wissenschaften geht es allemal.
Der Unterschied ist eklatant. Im einen Fall dreht es sich um Probleme, die mehrere Experten und Expertinnen gleichzeitig tangieren, im anderen um Experten, die der Meinung sind, aufgrund ihrer fachspezifischen Qualifikation überall mitreden zu können. Konkret: Erkenntnistheorie ist allen Einzelwissenschaften systematisch vorausgesetzt. Sie expliziert Bedingungen, nach denen sich deren spezielle Tätigkeiten zu richten haben, sofern sie Wissenschaften heißen wollen. Ich kann auf diese Konstruktion nicht prinzipiell eingehen und spitze die Perspektive scharf auf Felix Kaufmanns Kritik an Cantor zu. Hier sind zwei Punkte bedeutsam: die methodologische Asymmetrie und ihre Auswirkung in der Debatte betreffend Überabzählbarkeit.
Die Konstellation zwischen Mathematik und Erkenntniskritik ist an einem entscheidenden Punkt nicht umkehrbar. Mathematiker, die Grenzen überschreiten und als Hobbyphilosophen auftreten, können sich bei Bedarf auf ihr Handwerkszeug zurückziehen. Sie müssen sich nicht damit befassen, welche systematische Bedeutung den Ergebnissen ihrer Beweisführung zukommt. Diese Freiheit fehlt der Erkenntnistheorie. Zwar ist auch sie handwerklich reglementiert, doch ein Rückzug auf den Fachjargon läuft dem Sinn des ganzen Unternehmens zuwider. Erkenntniskritik ist wesentlich invasiv, sie kann nicht anders, als auf der Gegenseite mitzureden. Plakativ ausgedrückt: Cantor hätte seine Spekulationen unterlassen können und wäre derselbe innovative Mathematiker geblieben; Kaufmann muß, wie er die Sache angeht, seine Philosophie in der Auseinandersetzung mit Cantor bewähren.
Die Folgen der Asymmetrie sind allgemein bekannt. Sie bringt Erkenntnistheoretiker in eine seit Jahrhunderten bekannte Sonderposition: als Sachwalterin wissenschaftlicher Vernunft steht die Erkenntnistheorie über den Parteien und muß zugleich, um ernst genommen zu werden, etwas von den verhandelten Sachen verstehen. Sie etabliert die allgemeinen Prinzipien der Begriffsbildung und muß sie auch - zumindestens ansatzweise - konkretisieren können. Damit ist Kaufmanns Position gezeichnet. ,,Das Unendliche`` ist ein Konzept aus dem Inventar der Metaphysik(-kritik). Für den Umgang mit ihm gelten gewisse Regeln. Wenn jemand in seiner einzelwissenschaftlichen Arbeit dagegen verstößt, muß man ihn zur Räson rufen.