Die Kurve von Tschernobyl zu viel alltäglicheren Beispielen des Irrealisierungsprozesses ist nicht schwer zu nehmen. ,,Tatsächlich erschien dieser Großunfall, der die von Gorbatschow gewollte ,Befreiung` der Medien einführte, wie ein nuklearer Krieg, der, obwohl ,nicht erklärt`, effektiv geworden war. Diese überall und nirgends schwebende radioaktive Wolke, mokiert sie sich nicht ebenso wie die radioelektrischen Wellen über die Territorialgrenzen der großen bis dahin noch durch die Abschreckung garantierten Blöcke?`` Radio und Fernsehen sind Strahlung, die sich auf herkömmliche Fakten ähnlich zerstörerisch auswirkt wie Nuklearenergie. Das ist die These einer Reihe im Moment vielzitierter Theoretiker. Eine komprimierte Begründung liefert Baudrillard: ,,Überall dort, wo sich die Unterscheidung zweier Pole nicht mehr aufrechterhalten läßt, ganz gleich auf welchem Gebiet (Politik, Biologie, Psychologie, Medien), betritt man das Feld der Simulation und absoluten Manipulation - man ist nicht passiv, man kann viel mehr aktiv und passiv nicht mehr unterscheiden.`` Der Hinweis trifft die Erfahrung einer Ratlosigkeit, die Nietzsche als erster entwickelt hat. Das System der Wahrheit ist auf den beiden voneinander getrennten, durch Arbeit und die Gunst der Umstände korrelierbaren, Faktoren menschliches Erkenntnisvermögen und Welt aufgebaut. Die Medien sind ein Bereich, für den sich dieses Muster nur mit großen Schwierigkeiten aufrechterhalten läßt. Ihre Konsumenten beziehen keine Informationen über Sachverhalte, sie sind auf weite Strecken Mitspieler einer Inszenierung, die eine Eigenwelt erzeugt.
,,Die Televiziunea româna libera ...konnte ihren neuen Herren gleich vorweisen - und zwar nicht inmitten von erstürmten Regierungsbetonklötzen, sondern als Studiogast. Das Mediensystem, statt weiterhin eine externe Politik zu referenzieren, kennt in letzter Konsequenz nurmehr Zeiger auf sich selbst.`` Wenn es so weit ist, muß damit gerechnet werden, daß alle möglichen Machthaber die Gelegenheit nützen, die Tatsachen so darzustellen, wie es ihnen paßt, und möglichst zu verbergen, was sie da tun. Das führt zu einer Auszehrung des Gegenhaltes, der im Dualismus des klassischen Erkenntnismodells vorgesehen war. Ohne separate Fixpunkte sind die Medienbenutzer einer ordentlichen Identität gegenüber feststellbaren Umständen beraubt. Television ist ein Verfahren zur Herstellung eines umfassenden Als-Ob. ,,Wir befinden uns in der Logik der Simulation, die nichts mehr mit einer Logik der Tatsachen und einer Ordnung von Vernunftgründen gemein hat.``
Ähnliche Gedanken sind jedem schon einmal gekommen. Descartes hat sich einen Dämon vorgestellt, der uns ununterbrochen täuscht. Die Episode des TV-Reporters, der in Nordirland Kinder bezahlt, um Ausschreitungen filmen zu können, ist nicht untypisch. Auf der Ebene unserer nicht unfundierten Ängste hat Baudrillard recht. Ein gewisser Zynismus ist unvermeidlich, seit der Anschein der Glaubwürdigkeit mehr gilt, als solide Positionen. Aber Baudrillard spricht von der ,,Logik der Simulation`` und darüber ist mehr zu sagen, als unsere Befürchtungen nahelegen. Vor allem dieses: es ist ein großer Unterschied, ob Simulation als Gegenbegriff zu täuschungsfreiem Verhalten gedacht, oder als Begriff verabsolutiert wird. Im einen Fall bewegt man sich in einem Rahmen, der beiden Möglichkeiten Sinn zuweist. Sich über eine Schwindelei zu beschweren ist nur zweckmäßig, wenn Instanzen der Wahrheitsfindung bereitstehen. Das ist im zweiten Fall suspendiert. Alles ist Schwindel, die Logik der Simulation hat nichts mit einer Logik der Tatsachen gemein. Eine Verwendung deutet auf eine epistemologisch einigermaßen konsolidierte Situation, die andere auf eine einschneidende Krise. Beide haben ihre Berechtigung, die Kunst wäre, sie entsprechend voneinander abzuheben.
Auf Situationen, in denen etwas wahr oder falsch sein kann, zu reagieren, verlangt andere Fähigkeiten, als die Bewältigung einer Lage, in der alles nur falsch sein kann. Solange eine Chance besteht, das Richtige zu erkennen oder zu tun, lassen sich interne Möglichkeiten der Problemstellung ausschöpfen. Der scharfe Gegensatz dazu ist nicht, daß unter Umständen einmal alle angestellten Versuche fehlgehen, sondern daß die ganze Problemstellung verworfen wird. Mit Blick auf das Realitätsproblem gesagt: entweder wir betreiben das Projekt, Täuschungen zu vermeiden und zu Wahrheiten zu finden, oder das Unternehmen selbst ist eine Täuschung; wo Wirklichkeit vermutet wurde herrscht durchgängig Simulation. Hier liegt der neuralgische Punkt der ,,Logik der Simulation``, die Sinnverwandtschaft der Vokabel ,,falsch`` in ihrer doppelten Verwendung. Ihr Gebrauch zur Verwerfung des ganzen Rahmens wird vom Sinn des eingeschränkteren Gebrauches, der innerhalb des Rahmens liegt, gefärbt. ,,Das alles kann nur falsch sein`` teilt eine tiefreichende Enttäuschung mit, die sich von leichter reparierbaren Mißgriffen in Standardsituationen ableitet und abhebt. Der kategoriale Sprung, der zwischen beiden liegt, ist sorgfältig zu analysieren. Einerseits ist die entgrenzte Simulation noch immer als Verfehlen der Wirklichkeit gedacht, andererseits soll gerade gesagt werden, daß die Möglichkeit dieses Rückbezugs verlorengegangen ist. Der Grund meiner Insistenz: Baudrillard will beides haben, ,,daß es keine Wahrheit, keine Referenz und keinen objektiven Grund mehr gibt`` meint er nicht einfach als Erschöpfung einer Sprech- und Handlungsweise, wie man sagen könnte, daß es keine Kaiserkrönungen mehr gibt. So etwas verursacht nur ein Achselzucken. Baudrillards Behauptung ist anstößig, weil sich die in intentione recta genommen obsoleten Inhalte indirekt mit ihrem ehemaligen Sinn schmücken.
Diese rhetorische Figur ist weit verbreitet. Entwicklungsprozesse sind oft nur dadurch zu verdeutlichen, daß über einen kategorialen Sprung Kontinuitäten sichtbar bleiben. In einem Stadtkern ist z.B. die alte Stadt verworfen und festgehalten. So ist auch Baudrillards Erzählung angelegt. In früheren Zeiten war Simulation einmal ein Hindernis bei der Wahrheitssuche, heute ist sie zu einem Phänomen allgegenwärtiger Bodenlosigkeit geworden. Wahrheit kommt in ihr nur mehr als Erinnerung vor. Zur Illustration paßt das play-back im show-business. Der live-Effekt ist nur noch Aufputz eines hinter den Kulissen vorprogrammierten Auftritts. Was ist aber dann der Einwand gegen den Doppelsinn von Simulation? Gerade einen solchen Ausfall der Korrekturmöglichkeit soll Baudrillards Geschichte darstellen. Doch sie ist in entscheidenden Punkten eine Mystifikation. Nach seinem Eindruck wächst ,,die historische, soziale und politische Wüste`` Dieses Sentiment wäre in die Logik einer philosophischen Darlegung zu bringen. An der Schlüsselstelle des kategorialen Sprunges geschieht aber etwas Eigenartiges. Der traditionelle Dualismus ist kaum noch operabel, der in ihm gefaßte Sinn implodiert, soweit gehe ich mit. Dann steht gesperrt gedruckt: ,,An dieser Stelle beginnt die Simulation.`` Das ist keineswegs klar.
,,Alles falsch`` ist eine unter Umständen berechtigte Frustration. Daraus macht Baudrillard ein paranoisches Gebilde. Hinter der Enttäuschung steht eine für sie verantwortliche höhere Gewalt. Nicht genug, daß in dieser Randlage der Sinn der regulären Täuschung nachklingt, er wird noch extra spekulativ überhöht. Eine Instanz muß her, die uns so täuscht, wie wir das gewohnt waren und außerdem so unausweichlich, wie es der zugespitzten Lage entspricht. Das rasche Umspringen von einem Debakel zur Suche nach Verantwortlichen ist eine bekannte Defensivstrategie. Die Vorstellung von der umfassenden Herrschaft der Simulation gleich nach dem Auslassen des klassischen Realitätsanspruchs folgt diesem Muster. Die Produktion rascher Erklärungen, die der traumatischen Enttäuschung pari bieten, ist fragwürdige Metaphysik.
Sie führt z.B. zu der Überzeugung, ,,daß die Macht im großen und ganzen nur dazu da ist, um zu verbergen, daß es sie nicht mehr gibt. Diese simulierte Macht kann ewig dauern...`` So klingt die unglückselige Fusion von Heidegger und kritischer Theorie. Die Anklage gegen den universalen Verblendungszusammenhang ist mit der Idee versetzt, daß die Seinsvergessenheit ihrerseits in Vergessenheit gerät. Baudrillard bleibt bei der nihilistischen Erschütterung nicht stehen, sondern forciert sie über ihre Schockwirkung hinaus. Er weiß vorgreifend, was nach der Implosion des Sinns nur kommen kann - noch mehr Zerstörung unter dem Deckmantel der alten Ordnung. ,,Es geht um die Substituierung des Realen durch Zeichen des Realen.`` Ohne Frage gibt es das Phänomen der zynischen Restauration des eigentlich schon Überholten nach dem Zusammenbruch. Der Automatismus, den Baudrillard statuiert, ist aber eine Fleißaufgabe an Enttäuschung. Seine Geschichte ist so angelegt, daß sie zu immer subtiler variierten Verschwörungstheorien führen muß, ein typischer Fall von tiefem Mißtrauen, das nicht bloß eine Sicht der Dinge, sondern gleich jede weitere Entwicklungsmöglichkeit erfaßt. Angesichts dieser Befangenheit empfiehlt sich, beizeiten auszusteigen. Mein Vorschlag ist, den Punkt zu wählen, an dem in dieser Seinsgeschichte der klassische Objektivitätsanspruch versagt. Läßt sich die dadurch hervorgerufene Situation weniger voreingenommen beschreiben?