Die unmittelbaren Folgen eines Systemversagens sind für gewöhnlich: man weiß nicht weiter und versucht, den Anschluß doch zu finden. Das gilt noch bevor der Verdacht, daß nichts mehr geht, überhaupt greifen kann. Diese Erfahrung liegt vor den drastischen Aussichten Baudrillards. Sie ist zu explizieren, um nichts zu überstürzen. Zu diesem Zweck stütze ich mich auf eine aktuelle Version der hermeneutischen Frage nach der Möglichkeit von Sinnzuschreibung über Kommunikationsabbrüche hinweg. Das attraktive Modell hat Donald Davidson aus Vorgaben W.v.O. Quines entwickelt. Ein Ethnologe trifft auf eine ihm gänzlich unbekannte Sprachgemeinschaft. Er muß vom Nullpunkt aus anfangen, sie zu begreifen. Was soll er tun? Die Antwort ist ein Allgemeinplatz in Form eines Schemas aus der sprachanalytischen Tradition. Verstehen beginnt damit, sich zurechtzulegen, was die Gesprächspartner mit ihren Äußerungen meinen könnten.
Diese Selbstverständlichkeit präzisiert Davidson anhand der Struktur von Tarskis Wahrheitskonvention. Sie besagt, daß ein Satz das Prädikat ,,... ist wahr`` verdient, wenn seine Übersetzung in eine Metasprache in dieser behauptet werden kann. Das ist die Pointe des berühmten Beispiels ,,,Schnee ist weiß` ist wahr genau dann, wenn Schnee weiß ist``. Für Übersetzungen ohne Vorkenntnisse adaptiert, führt das zum Postulat eines Verfahrens sukzessiver versuchsweiser Rekonstruktion der inneren Struktur der untersuchten Sprechäußerungen innerhalb der Muttersprache des Ethnologen. Er muß versuchen, seine Beobachtungen so zu arrangieren, daß sie möglichst sinnvoll zusammenhängen und Vorausssagen künftiger linguistischer Abläufe gestatten. Dabei ist das sogenannte ,,principle of charity`` unerläßlich. Es verlangt, daß er Informanten mit einem Vertrauensvorschuß begegnet. Anders ist die Aufgabe, aus den Daten möglichst viel über die Eingeborenen herauszubekommen, nicht zu lösen.
Dieses Toleranzprinzip steht in markantem Gegensatz zu Baudrillards gezielter Verstärkung aller Verdachtsmomente. Davon wird noch die Rede sein, zuvor zu einer Eigenart der Konstruktion Davidsons. Sie stellt das Unverständnis eines fremden Idioms der unbefragten Kompetenz in der vom Forscher praktizierten Sprache gegenüber. Ohne zu wissen, wovon er redet, kann er sich nicht zurechtlegen, was die anderen meinen. In Baudrillards Terminologie hieße das: wenn ihm alle Referentiale der Eingeborenensprache fehlen, kann er schwer gleichzeitig den Zweifel gegen seine eigene Ausdrucksweise richten. Das gibt nur Bruch. Er muß zwar nicht erklären können, wie es ihm gelingt, sich mit Gleichgesinnten zu verständigen, insbesondere kann er den Hinweis auf Realität aus dem Spiel lassen. Aber er muß die Leistungsfähigkeit seiner Sprache in Anspruch nehmen, um Hypothesen darüber zu bilden, wie die Fremdsprache funktioniert. ,,Falls die Bezugnahme also relativ zu meinem Bezugsrahmen ist in der Gestalt, in der er bereits in meine eigene Sprache eingebettet ist, ist alles, was dazu beitragen kann, meinen Worten einen Bezug zu verleihen, dadurch gegeben, daß ich eben meine eigene Sprache spreche.`` Angenommen z.B. ich treffe auf eine Vokabel, deren Bedeutung in einem Ritual ich nicht durchschaue, etwa ,,Hokuspokus``. Dann liegt die Aufgabe darin, ihr eine Übersetzung zuzuordnen, die deutlich macht, welche Rolle das Wort nach meinem Verständnis in der untersuchten Sprache spielt.
Das klingt hausbacken, hat aber bei einer ,,Implosion von Sinn`` wichtige Konsequenzen. Davidson diskutiert sie hinsichtlich des Auftauchens prinzipiell inkommensurabler Sprech- und Handlungsweisen. Angenommen die Daten geben trotz aller Anstrengung nichts her. (Der Sinn ist ,,verschwunden``.) Was folgt daraus? Gerade nicht, was Baudrillard erzählt, nämlich die Wirksamkeit einer höheren, Simulation erzeugenden, Instanz. Wo herkömmliches Verstehen unter keinen Umständen greifen kann, ist auch nichts zu simulieren. Die These bezieht sich nicht auf relative Bedeutungsdifferenzen, sondern auf den Interpretationsnotstand in seiner radikalsten Form. Es ist verwegen, dort, wo sich keine Sinnzusammenhänge identifizieren lassen, eine Art Über-Sinn anzusetzen, zu dem wir nur über die Ausschaltung des Anfangsverständnisses gelangen. Als gäbe es Welten, die das sacrificium intellectus fordern. Dagegen argumentiert Davidson, es gehöre zu unserem Begriff von Welt respektive Sinn, in einer allgemein verständlichen Sprache aufzuscheinen. Jenseits der Grenze der Verständlichkeit liegt keine Super-Macht, sondern ein black-out. Sich mit ihm anzulegen heißt, es erst wieder in einen eingeführten Sprachkontext zu übersetzen. Kurz gesagt: man kann nicht beides haben, anhaltendes Erstarren vor dem Abgrund und eine Interpretation, was er für uns bedeutet. Eine hermeneutische Banalität, könnte man sagen. Doch sie erschüttert die These von der umfassenden Simulation.
Wenn in einer Sprache von Realität nicht mehr die Rede sein kann, fehlt die Grundlage einen oparablen Begriff von Simulation in sie hineinzulesen. Gegenwärtig ist er mit Wirklichkeit verknüpft. Diese systematische Verbindung zu durchtrennen, alle Referentialität untergehen zu lassen, und dann mit ,,Simulation`` eine ganz besondere Täuschung zu meinen, ist ein Kunststück der Imagination, keine Begriffsarbeit. So ähnlich, als entledigten wir uns des Minimalkonsenses über Zauberei und würden dann versuchen, ,,Hokuspokus`` zu verstehen. Wir hätten keine Basis, von der aus sich verläßliche Verbindungen knüpfen ließen. Die Situation läßt sich ganz undramatisch resümieren: ein Ausdruck kann nicht seiner Funktion in unserer Sprache entkleidet werden und dann noch Übersetzungsdienste leisten, schon gar nicht unter der Voraussetzung eines radikalen semantischen Einbruchs. Zwei Argumentationslinien sind von hier aus weiter zu verfolgen. Erstens gewinnt Davidson aus seiner Konstruktion einen Realitätsbegriff, dem gegenüber relativistisch-nihilistische Bedenken nicht greifen. Er zeigt, daß sich die ganze Aufregung letztlich nicht auszahlen kann. Dagegen liegt allerdings - zweitens - der Einwand nahe, daß es in dieser Sphäre eben nicht darum geht, daß sich etwas auszahlt.
Enthält unsere Sprache nicht vielfältige Mittel, Überforderungen mitzuteilen? Vielleicht ist Baudrillards ,,Logik der Simulation`` ein unbedachtes Beispiel. Die Schrammen der Ausbruchsversuche aus dem Behältnis der Stammessprachen sind dennoch nicht zu leugnen. Lacan hat sich ihrer mit besonderer terminologischer Phantasie angenommen.
Davidson sagt, daß Sprecher, die Fremde verstehen wollen, wissen müssen, wovon sie selber reden. Das kann leicht mißverstanden werden. Er meint nicht, daß sie in klassischer Manier Zugang zu Sachverhalten haben, aus denen Wirklichkeit besteht. Im Gegenteil: er ist ein scharfer Gegner des erkenntnistheoretischen Dualismus. Die Pointe seiner Adaption des Tarski-Schemas ist gerade, daß wir ,,die Wirklichkeit`` zur Legitimation unserer Aussagen nicht benötigen. ,,Das Problem ist, daß die Konzeption des der Erfahrungsgesamtheit Entsprechens - ebenso wie die Konzeption der Tatsachenentsprechung oder Tatsachenübereinstimmung - dem schlichten Begriff des Wahrseins nichts Verständliches hinzufügt.`` Ein Satz ist wahr, wenn er behauptet werden kann. Dadurch unterliegt er gewissen Restriktionen, die einer Sprachgemeinschaft eigen sind. Über diese Verhältnisse eine meta-explanative Theorie zu stülpen, warum sie sich das Recht nehmen, zu sprechen, wie sie sprechen, ist verlorene Liebesmüh', wenn dabei nicht mehr herauskommt als Erklärung faktischer Verhältnisse durch metaphysische Begriffe. ,,Es gibt jedoch nichts, kein Ding, das Sätze und Theorien wahr macht; weder Erfahrung noch Oberflächenreizungen noch die Welt sind imstande, einen Satz wahr zu machen.`` Diese Eigenschaft wird ihm innerhalb einer metasprachlich erstellten Theorie zugesprochen. Sie kann sich dazu referentieller Hilfskonstruktionen bedienen, ohne auf ihre ontologische Gültigkeit festgelegt zu sein.
Davidson bleibt an der Oberfläche der Wahrheitskonvention: die Metasprache muß einfach funktionieren, dann legitimiert sich das Wahrheitsprädikat auf niedrigerer Stufe. Natürlich fragt sich, worauf sich das Vertrauen in die Selbstverständlichkeiten der übergeordneten Sprache gründet. Hier wartet Davidson mit einer Überraschung auf. Die illusionäre Vorstellung, es könnte alles anders sein, als wir meinen, trägt nicht. Dann können nach entsprechender Prüfung verwendete Sätze ruhig als objektiv gültig aufgefaßt werden. Es ist sinnlos, sich mit der Annahme zu quälen, sie wären weniger als realitätsgerecht. ,,Indem wir uns der Abhängigkeit vom Begriff einer uninterpretierten Realität (eines Etwas, das außerhalb aller Schemata und aller Wissenschaft liegt) entziehen, verzichten wir nicht auf den Begriff der objektiven Wahrheit - ganz im Gegenteil.`` Verständliche Sprache erhebt faut de mieux den Anspruch, die Welt zu erschließen. Der radikale Relativismus kann nicht sagen, was er sagen möchte, nämlich daß - für einzelne Sprachen unzugänglich - dennoch Tatsachen bestehen, die alle Annäherungsversuche entwerten. Zurück bleibt eine Sprachpraxis, welche ,,die unmittelbare Beziehung zu den Gegenständen`` wiederherstellt. Der Gegenzug zu Baudrillards dramatisierter Erschütterung jeder ernsthaften Kommunikation ist Festlegung auf die Stabilität, die wir nun einmal haben. Boshaft könnte man Davidsons unmittelbar gegebene Gegenstände Hyperrealität nennen. Sie sind vom gebräuchlichen Zwiespalt zwischen dem Wirklichkeitsbezug und seinem Mißlingen ebensoweit entfernt wie die omnipräsente Simulation.
Die Einwände gegen Baudrillards Verabsolutierung treffen auch Davidsons Vorgehen. Er hat kein Recht, nachdem die Möglichkeit des Irrtums ausgeschaltet ist, in jenem Sinn von Objektivität zu sprechen, mit dem die Überlegung begonnen hat. Die Robustheit seiner Schlußfolgerung ist ebenso Zugabe, wie Baudrillards Schlüpfrigkeit. Seine Rekonstruktion des hermeneutischen Verfahrens wird nicht davon berührt. Unverständliches nicht mißtrauisch zur überdimensionalen Gefahr aufzubauschen, sondern sich nach Maßgabe des vorhandenen Verständnisses zurechtzulegen, ist mehr als Klugheit. Es ist Bedingung für Standfestigkeit in einer Welt. Nur Davidsons letzte Drehung zum Realismus ist des Guten zuviel. Wir sind jetzt an der Stelle, an der die Frage auftaucht, welche Rolle die Verabsolutierung von Termen wie ,,Simulation`` oder ,,Realität`` gegenüber ihrer normalen Einbettung in semantische Oppositions- und Ergänzungsrelationen spielt.