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Drei philosophische Ansätze geben ganz verschiedene Antworten auf die Frage, was angesichts der Unterwanderung von ,,Realität`` zu sagen sei. Baudrillard konzentriert sich auf die Bodenlosigkeit, die dort am eklatantesten zutag tritt, wo so getan wird, als stünden wir auf festem Boden. Die Wirklichkeit ist heute geradezu prädestiniert, die alles umfassende Unwirklichkeit zu verschleiern. Davidson stellt eine unsentimentale Abschätzung dagegen. So radikal kann Realität nicht in Frage gestellt werden, ohne daß dabei der Sinn der eigenen Worte verlorengeht. Und in Lacans System ist Platz für beide Seiten. Sein Reales ist die Subversion und die Garantie der gewöhnlichen Anhaltspunkte für Objektivität. Die auf der Normalebene bezuglose Ausrichtung auf ein umwerfendes Ereignis ist eine entscheidende Stufe höher in Ordnung. Die vernünftigste erste Reaktion auf diese Alternativvorschläge ist ein Rückzug auf Davidsons Maxime. Nirgends ist garantiert, daß sie von einer Sache sprechen, nur weil sie sich derselben Vokabel bedienen. Möglicherweise ist das Eingeständnis, daß jeder referierte Ansatz in sich ruht und Konkurrenten nicht verträgt, der Weisheit letzter Schluß. Dann entfällt die Diskussion und die Verfahren stehen beziehungslos nebeneinander. Ich habe scharfe Trennungslinien zwischen ihnen gezogen, daher ist diese Konsequenz nicht auszuschließen. Doch genau darin liegt ein Gegenargument versteckt. Die Positionen sind nicht irgendwie, unabhängig davon, wie sie präsentiert werden. Sie aufzureihen, nur um ihre Unvereinbarkeit zu statuieren, bleibt unbefriedigend. Philosophische Anstrengungen, zur weiteren Orientierung doch etwas Verbindendes herauszufinden, haben einen Bonus gegenüber purer Juxtaposition. Aber ein übergeordnetes Bezugssystem läßt sich nicht aus dem Ärmel schütteln.

Scharfe Trennlinien sind jedenfalls nicht die einzigen philosophisch hilfreichen Vorkehrungen. Bestimmte Effekte sind nur durch gezieltes Verwischen von Unterschieden zu erreichen. Ein Elementarschüler wird nie begreifen, was ein Dreieck ist, wenn er an Tafelskizzen klebt. Die Aufgabe wäre dann, eine Betrachtung zu finden, die aus den vorgetragenen Überlegungen ein Muster heraushebt, das ihre scheinbare Inkommensurabilität relativiert. Das kann schwerlich eine ausgefeilte Metatheorie über Realität sein. Wenn Sichtweisen so entschieden auseinanderstreben, sollte man nicht Löwenbändiger spielen. Praktizierbar ist ein pragmatischeres Vorgehen. Worte wie ,,Realität``, ,,Wahrheit``, ,,Welt`` etc. sind Schnittpunkte diverser Interessen, von denen nicht a priori festliegt, ob sie vereinbar sind. Es braucht Anstrengung und Phantasie, um das in jedem einzelnen Fall herauszufinden. ,,007`` als Ziffer oder Bezeichnung eines Geheimagenten bietet praktisch keine Überschneidung, ,,1984`` als Jahreszahl und Romantitel schon eher.

Zum Abschluß also noch eine Anmerkung zur Infrastruktur der Verwendung des Realitätsbegriffs. Die metaphysischen Pointen - Universalsimulation, unmittelbarer Wirklichkeitskontakt, Realpräsenz des Überwältigenden - scheiden aus. Sie sind nicht unverständlich, aber für Koordinationsversuche deplaciert. Endresultate, die unverrückbare Perspektiven zeichnen, sind in der Denkökonomie durchaus gefragt. Der Preis, der für sie zu bezahlen ist, ist Inkompatibilität. In Extremfällen hört sich die Verständigung auf, das ist die sachliche Grundlage und die Beschränktheit großer Worte. Ein Vorschlag für den gemäßigten Umgang mit ihnen ist die Behandlung von Begriffen als Positionen in Sprachspielen, gröber formuliert als Bestandteile von Klischees. Die philosophische Brisanz der Auseinandersetzung um ,,Realität`` wird nicht durch die Fachliteratur erzeugt.

Sie gründet darauf, daß die diversen Beiträge auf eine sozio-kulturell tief verwurzelte Standardvorgabe rekurrieren. Der gesellschaftliche Konsens besagt, daß Wissenschaft, Kunst und Glaube jeweils auf ihre Art der Wahrheit immer näher kommen. An dieser Grundeinstellung festzuhalten scheint zur Verteidigung des Abendlandes nötig, darum wirbeln die kritischen Stellungnahmen Staub auf. Die Opposition gegen diesen Gemeinplatz verbindet die Ausführungen Baudrillards, Davidsons und Lacans. So sehr sie strikt sachlich genommen divergieren, sie sind darin einig, daß die bestimmende Rolle von ,,Realität`` im gebräuchlichen Denkschema neu ausgehandelt werden muß. Ihre Alternativen laufen nebeneinander her, öfters durchkreuzen sie einander. Auf diese Weise entsteht ein Argumentationsnetz, das dazu dienen kann, den Sturz aus den Klischeevorstellungen aufzufangen. Philosophie bietet nicht die richtige Antwort, sondern eine Palette von Möglichkeiten, entsprechend vorliegenden Interessen mit bohrenden Fragen umzugehen. Wer das Defaitismus nennt, hat einen Zipfel der endgültigen Wahrheit in der Hand.

Hinweise auf die Interessenskonflikte im Streit um ,,Realität`` habe ich laufend gegeben. Im Unterschied zu den Abstraktionsgebilden, die selbstgeschriebenen Gesetzen gehorchen und einander darum nicht tangieren müssen, stoßen die Interessen in Raum und Zeit zusammen. Sie können verglichen und gegeneinander abgewogen werden, die demokratischen Formen der Krisenbewältigung sind Verhandlungen und Kompromiß. Die Regeln unseres politischen Systems und unserer Denkgeschichte kollidieren an diesem Punkt. Ein synkretistischer Begriff von ,,Realität`` ist nach dem einen selbstverständlich, nach der anderen unerwünscht. Das Bild, das ich gezeichnet habe, dreht sich genau um diese Achse. Fernsehen, Tarski und Psychoanalyse sind als bestimmende Faktoren für eine neue Ausarbeitung des Realitätsbegriffes eingeführt worden. Die Aufzählung ist für den geübten Philosophen erschreckend beliebig. Es fehlt der Maßstab um festlegen zu können, was eigentlich gemeint ist. Die Antwort im Sinn demokratischer Verfahrensweisen besteht darin, herauszufinden, ob für die disparaten Beiträge doch Meßgrößen zu finden sind, die einigermaßen passen. Sie müssen sich nicht auf eine einzige Skala beschränken, selbst gastronomische Orientierungshilfen bewerten die Lokale gleichzeitig nach mehreren verschiedenen Kategorien. Ich muß die Analyse der Realitätsdiskussion unter diesem Gesichtspunkt schuldig bleiben. Das Plädoyer zielt darauf, sich die Mühe ihrer Einbettung in demokratische Interessenabschätzung nicht zu ersparen. Dazu noch ein Slogan. Werft etwas beschädigte Begriffe nicht gedankenlos weg! Auch kognitiver Müll verunstaltet die Umwelt. Philosophische Einwegverpackungen sind praktisch für die Produzenten, die Folgelasten trägt der Konsument.


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Fri Aug 9 21:05:11 MET DST 1996