Angekündigtes Ziel war die Vermeidung des Kurzschlusses zwischen der ultra-skeptischen und der neo-metaphysischen Verwendung des Begriffes Realität. Davidson sollte Baudrillards Hochspannung neutralisieren. Die Strategie ist, wie zu sehen war, nur beschränkt erfolgreich. Affirmative wie negative Grenzwerte liegen nicht auf einer Ebene mit dem Alltagsverständnis. Selbst wenn Davidson für den Normalfall recht behält, ist der Streit um Realität damit noch nicht entschieden. In einer erweiterten Fragestellung geht es darum, ob sich die Erfahrung des Ausfalls konventionellen Sinns nicht mit dem Terminus ,,Realität`` prokuktiv verknüpfen läßt. Die Einwände gegen den Wortmißbrauch bleiben zwar in Kraft. Überspannte Termini versuchen, ihre Benutzer aus ihnen zugänglichen Sphären zu katapultieren und das geht selten gut. Aber vielleicht lehrt die Explikation dieses Mißlingens etwas über die vorangegangenen Selbstverständlichkeiten.
Es könnte eine Aufgabe für Metaphysik im negativen Modus sein, Sprechweisen anzubieten, die nicht so tun, als würde diese Behinderung nicht immer wieder einmal auftauchen, wenn anscheinend alles in bester Ordnung ist. ,,Realität`` möchte ich weder verloren geben, noch gratis als Zugabe zur Sprachkompetenz erhalten. Jacques Lacan hat sie als Ort eines besonderen Scheiterns vorgestellt. Um seine Überlegungen an Davidsons Konstruktion anschließen zu können ist eine methodische Erweiterung nötig. Erfolgreicher Umgang mit Worten zur Orientierung in der Welt ist eine Oberfläche, nicht die letzte Instanz für Forschung. Diese - der sprachanalytischen Philosophie im Gefolge Wittgensteins verdächtige - Vertiefung ist in der Psychoanalyse gängig. Sie lehrt, sich auf den Wortlaut zahlreicher Aussagen besser nicht zu verlassen. Hinter dem realistischen Gehabe verbirgt sich häufig ein ganz anderes Verhältnis zur Wirklichkeit: Wunschvorstellungen im Gewand von Tatsachen. Lacan ist wie Baudrillard und Davidson kein Anhänger klassischer Korrespondenztheorien. Aber er hat andere Mittel zur Verfügung, ihren Ausfall theoretisch abzufangen.
Das Realitätsproblem durchschneidet das Lustprinzip. ,,Es handelt sich im Beweis der Wirklichkeit überhaupt nicht darum, zu kontrollieren, ob unsere Vorstellungen einem Wirklichen gut korrespondieren - wir wissen schon lange, daß wir damit keinen besseren Erfolg haben, als die Philosophen ...`` Die psychoanalytische Untersuchung legt einen davon unabhängigen Mechanismus frei. Vorstellungen und Zeichen sind konstitutiv auf ,,Sachen`` ausgerichtet, in der Regel auf Phantasieprodukte, die (uns) Patienten ein halbwegs integriertes Leben möglich machen. Soweit deckt sich der Entwurf mit Baudrillard, aber Lacan geht weiter. Er findet eine Kraft, die in all diesen ,,Sachbezügen`` wirksam ist und dennoch permanent ihr Ziel verfehlt. Zeichen haben Erfolg, darüber hinaus exemplifizieren sie in vielfältiger Weise einen Grundzug für Menschen, die Suche nach dem Unikum, das - immer schon verloren - allem, was gefunden werden kann, Sinn gibt und nimmt.
Eine kräftige Portion Metaphysik, eine Sprachregelung, die ungeniert Wendungen der spekulativen Meister früherer Jahrhunderte paraphrasiert. ,,Der wahre, authentische Gegenstand, um den es sich handelt, wenn wir von Gegenstand sprechen, ist niemals ergriffen, übertragbar, austauschbar. Er ist am Horizont dessen, worum unsere Fantasmen kreisen. Und doch müssen wir mit ihm Gegenstände machen, die ihrerseits austauschbar sind.`` Es ist zu einfach, solche Elogen mit Hinweis auf ihre Herkunft aus der psychoanalytischen Praxis zu rechtfertigen. Philosophische Kategorien und Argumentationsstrategien müssen an Ort und Stelle greifen. Daß der Phallus (sichtbares Zeichen des männlichen Begehrens) seinen Namen für ein Super-Zeichen hergibt, das nicht diskursiv zugängliche Fülle bedeuten soll, ist eine phantastische Geschichte. Ihr philosophischer Gehalt läßt sich nur beurteilen, wenn man Lacans Wendungen nicht nur aus einer favorisierten Theorie importiert, sondern immanent auf ihre Tragfähigkeit prüft. Slavoj Zizek bringt eine große Zahl von Beispielen dafür, daß sich Lacans Reales überall in der Alltagserfahrung lokalisieren läßt. Altgediente Einführungen ins Philosophieren bedienen sich zur Einstimmung auf die Begriffsarbeit häufig pathetisch-sentimentaler Phrasen über Mensch, Wahrheit, Ganzheit und Tod. Zizek greift direkt in den Fundus der Massenkultur. Er dekompensiert Metaphysik nicht, sondern füllt ihre hohlen Worte mit ganz normalem Inhalt. Dabei brechen die Konsumangebote, die wir vermeintlich ohne Rest verstehen, auf ungewohnte Weise auseinander.
So läßt sich das Verdikt von der Unhintergehbarkeit des Alltagssprache immer wieder entkräften. Richtig gehandhabt gibt Lacans Begriff des Realen eine Serie verblüffender Effekte. Einschneidender als die tägliche Artikulation von Wünschen und Bedürfnissen sind jene Erfahrungen, die uns sprachlos zurücklassen. ,,Wirklichkeit selbst ist nichts als die Verkörperung einer gewissen Blockade im Prozeß der Symbolisierung.`` In diesem Vorschlag wird die Funktionsweise des umstrittenen Begriffs am Rand der Sprache neu geregelt. ,,Die Grenze, die das Symbolische vom Realen trennt, zu überschreiten ist unmöglich, denn das Symbolische ist gerade diese Grenze.`` Das Reale spielt die Rolle des Platzhalters für die Übermacht einer unnennbaren, unlebbaren Erfüllung, die der menschliche Triebablauf dennoch anvisiert. Die Belege, die Zizek zusammenträgt, reichen von Hitchcocks MacGuffin bis zu Lacans Gott Die Konfiguration einer in bestimmten Rahmen nicht festzumachenden Größe, die dennoch und eben deshalb die Rahmeninhalte bestimmt, läßt sich allerorten finden. Aus ihrer Nützlichkeit zur Aufschlüsselung ethischer, politischer und ästhetischer Produktion gewinnt die metaphysische Denkfigur ihr Gewicht. Um das plastisch zu machen greife ich Zizeks Verfahren auf und teste seinen Formalismus in der Beschreibung eines Video-Spiels, ,,Crystal Quest``.
Die Bildschirmanzeige enthält drei spielentscheidende Örtlichkeiten. Rechts und links seitlich ventilartige Tore, durch die in unregelmäßiger Folge zunehmend garstigere Ungeheuer in das Sichtfeld drängen; mitten auf der Grundlinie hingegen ein Ausgang, durch den die mobile Spielfigur den Raum verlassen kann, wenn sie deren Attacken überlebt und die nötigen Gegenstände aufgesammelt hat. Viele Computerspiele sind solche Allegorien eines Lebens, das sich als Summe von Pflichterfüllung und Durchsetzungsvermögen definiert. In diesem Fall kommt eine Pointe dazu. Die Berührung der Einfallstore ist tödlich für die Spielfigur; die Quelle alles Übels ist tabu. Die Tore sind Umschlagpunkte der para-metaphysischen Topologie von ,,Crystal Quest``. ,,Hinter`` ihnen verbirgt sich die Dimension, die dem ganzen Spielgeschehen Sinn gibt und darum von ihm aus nicht zu erreichen ist. Kurzzeitig scheint sie durch die dritte Pforte zugänglich zu sein.
Aber das geglückte Eintreten der Spielfigur in diese ,,höhere`` Dimension ist bloß ihr Verschwinden und ein Neuarrangement des Punktestandes, dann geht es mit denselben Problemen in die nächste Runde. ,,Die einzige passende Einstellung ist jene, die diese Kluft ohne Einschränkung als etwas akzeptiert, das unsere condition humaine definiert ...`` Übersetzung für den vorliegenden Fall: ,,Crystal Quest`` funktioniert aufgrund des Einverständnisses, daß der Bestimmungsgrund seines manifesten Verlaufes unzugänglich bleibt und dennoch einen Ort markiert, an dem er in die Wirklichkeit der Spielerin eintritt. Sie läßt sich darauf ein, statt das Prinzip jemals erreichen zu können, im Gefahrenbereich Punkte zu sammeln. Diese Beschränkung ist in gewisser Weise der Reiz des Spiels. Man muß keine Verantwortung für die verborgene Kraft übernehmen. Der Spaß liegt darin, ihren Übergriffen möglichst lange und geschickt zu trotzen.
Das Beispiel beleuchtet zweierlei. Erstens ist der metaphysische Denktypus nicht notwendig esoterisch. Die freiwillige Selbstbeschneidung, mit der maßgebliche philosophische Strömungen dieses Jahrhunderts operieren, kann kontraproduktiv sein. Zizeks lustvolle kulturphilosophische Streifzüge weisen in diese Richtung. Zweitens ist die Rehabilitierung aber auch mit Vorsicht zu genießen. ,,Crystal Quest`` ist eine doppelbödige Illustration. Denn die geheimnisvolle Meta-Ebene, deren Eingänge in das Spielfeld nach Lacans Muster Inbegriff der Realität wären, ist selbstverständlich ein software-Konstrukt. Ich habe den Kurzschluß zu vermeiden gesucht, dennoch schließt sich hier ein Kreis.
Die relevanten Ereignisse auf dem Bildschirm, inklusive quasi höherstufigen, sind vorprogrammiert. In ihre Beschreibung kann ein emphatischer Realitätsbegriff eingeschaltet werden, um bestimmten Elementen eine Sonderstellung zu verleihen. Phänomenologisch macht das Sinn, ihn aber als letzte Auskunft anzuerkennen ist gleichbedeutend mit dem Eingeständnis, auf der Spielebene festzusitzen. Hier trennt sich die metaphysische Denkfigur von allen möglichen Beispielen. Denn kein Anwendungsfall für Lacans Theoriemuster kann die Bedingung erfüllen, endgültig und unhintergehbar Reales zu nennen. Weder die Heimat der Ungeheuer im Videospiel, noch Hitchcocks Unheimlichkeit, noch die atomare Katastrophe sind im Prinzip davon ausgenommen, in anderen Beschreibungen als kausale Bestandteile einer von Menschen beherrschten Welt aufzutreten. Das Dilemma verfolgt metaphysische Anstrengungen von Anfang an. Sie lassen sich streng genommen nicht mit Beispielen belegen, denn Beispiele stammen aus jener Welt, der Metaphysik eine prinzipielle Grenze ziehen will. Wer auf der Unumstößlichkeit irgend eines Einzelfalls besteht, nimmt ihn als Transparentfolie, auf deren Untergrund Festschreibungen sichtbar werden, die nicht aus ihm begründet werden können. So instruktiv die Spurensuche nach Bildern des Unendlichen auch ist, sie kann nur relative Endgültigkeiten finden. Definitive metaphysische Vorschreibungen sind nach wie vor spekulative Akte.
Das ist zum dritten Mal ein einschränkendes Ergebnis. Baudrillards Medienanalyse, Davidsons systematisch-hermeneutische Reflexion und Lacans symboltheoretische Weiterentwicklung des Freudschen Realitätsprinzips verdeutlichen wichtige Sektoren der Erfahrungswelt und haben alle drei weiterreichende Ansprüche. Sie wollen angeben, worauf das Hin und Her des Alltags hinausläuft. Mit diesem Schritt - das versuchte ich zu zeigen - geraten sie auf schlüpfriges Terrain. Sie operieren mit Begriffsausdrücken, deren Standfestigkeit aus Kontexten stammt, die dem höheren Zweck gerade zum Opfer fallen. Das erklärt die bedenkliche Leichtigkeit, mit der in diesem Bereich die scheinbar widersprüchlichsten Urteile fallen. Das Unerreichbare in ,,Crystal Quest`` ist das Reale, ist nichts als Simulation, ist einfach ein Programmbestandteil. Bei Videospielen ist das noch amüsant, aber die Schwierigkeit gilt ebenso für politische Umstürze und überdimensionale Waffensysteme. Es ist weniger ein Konflikt zwischen verschiedenen Positionen, eher die Auflösung eines zur gemeinsamen Orientierung dienenden Realitätsbegriffs. Also doch ein Kurzschluß? Baudrillard hat mindestens darin recht, daß die Gewohnheit, zur Stabilisierung der Verständigung gerade diesen Terminus heranzuziehen, immer weniger trägt. Bleibt die Frage, inwiefern sich der in diesen Zeilen unternommene Aufschub dagegen stellen kann.