Der Schutzumschlag von Friedrich Stadlers Buch zeigt - auf weißem Hintergrund - einen großen roten Kreis. ,,Ursprung, Entwicklung und Wirkung des Logischen Empirismus im Kontext'', der Untertitel verbindet Linearität und Zirkularität. Einerseits folgt er dem Entwicklungsmuster von Organismen und Organisationen: Herkunft und Ausblick. Zweitens demarkiert er eine Kreisbewegung. Etwas muß rückblickend in seiner Beschaffenheit identifiziert werden, bevor ihm Ursprung und Folgewirkungen zugesprochen werden können. Es muß verfügbar und verortbar sein, um einen Kontext um sich haben zu können. Der 2. Teil der ,,Studien zum Wiener Kreis'' (Stadler, S. 623-919) ist ein biographisch-bibliographisches Kompendium aller Personen aus dem Ambiente der Forschergruppe. Ganz wenige leben noch, die meisten Akteure und Zeitzeugen starben während der letzten 25 Jahre, die Entwicklung räumt der Dokumentation das Feld. Mit Akribie hat Friedrich Stadler Kurzbiographien, Publikationslisten, Aufstellungen von Lehrveranstaltungen und weiterführende Literaturhinweise zusammengestellt. Dieser Teil bietet ein unverzichtbares Nachschlagewerk für alle Aspekte des Logischen Empirismus. Vielleicht lassen sich die Informationen in einer Datenbank erfassen und der Öffentlichkeit (z.B. am Internet) zur Verfügung stellen. Das könnte auch verhindern, daß die Literaturangaben rasch veralten.
Thomas Uebel arbeitet die argumentativen Nuancen der Protokollsatzdebatte heraus, Friedrich Stadler entwickelt ein weites Panorama, das die zahllosen thematischen und persönlichen Verästelungen der Theoretiker der späten Donaumonarchie und der ersten Republik wiedergibt. Das Bild des Wiener Kreises erscheint in historischer Rekonstruktion ,,viel reicher und differenzierter , als es einerseits in der Programmschrift, andererseits in der einschlägigen Forschungsliteratur - mit wenigen neuesten Ausnahmen - zu finden ist.'' (Stadler, S. 54) Die Aktivitäten im Umfeld Schlicks knüpften an Motive und Vorarbeiten B. Bolzanos, F. Brentanos, E. Machs und L. Boltzmanns an. Stadler greift auf die These R. Hallers zurück, nach der es um die Jahrhundertwende eine spezifisch österreichische Philosophie gegeben hätte, eine ,,antiidealistische Tradition zwischen Logik, Empirie und Sprachkritik''. (Stadler, S. 107)
Letztlich wird ein Erklärungsschema angestrebt, das diese österreichische Philosophie in einen politischen und kulturellen Kontext stellen kann, der sowohl interdisziplinär wie auch international angelegt sein muß. (Stadler, S. 108f)
Auf Seiten der Kunst und Literatur finden sich die ,,usual suspects'': Adolf Loos, Karl Kraus, Robert Musil und Fritz Mauthner. Politisch werden die Volksbildung im sozialistisch regierten Wien (insbesondere der Verein ,,Ernst Mach'') und die Theoretiker des Austromarxismus hervorgehoben. Stadler bietet eine reichhaltige Textauswahl: zentrale Passagen aus teilweise schwer zugänglichen Publikationen der Brentanoschule und der Mach-Rezeption. Die Vorstellung, der Wiener Kreis wäre ein glatter Traditionsbruch, ist unhaltbar. Eher handelte es sich um den Konflikt zweier Überlieferungsstränge. Der Historiker rekonstruiert die Interessenslage, die zu frontalen, pamphletistischen Frontbildungen führte - und löst sie aus dem Krampf.
Der Beginn ist polymorph:
Die Vorgeschichte des Wiener Kreises, des eigentlichen ,Urkreises', beginnt um 1907 mit einer Diskussionsrunde in einem Wiener Café, über die Philipp Frank eingehend berichtet: Zu diesem illustren Zirkel zählten katholische Philosophen, romantische Mystiker und neben Frank noch Otto Neurath, Hans Hahn und Richard von Mises. (Stadler, S. 168)
Empirismus, logisches Instrumentarium, Konventionalismus, Metaphysikkritik, Wissenschaftsmonismus und Nominalismus bestimmten die Debatten. Hans Hahn, ab 1916 Extraordinarius (1917: Ordinarius) in Bonn, wurde 1921 nach Wien zurückberufen, gerade rechtzeitig, um die Bestellung Moritz Schlicks zu betreiben.
Im Anschluß an die Formierungsphase vor dem Krieg wurde in diesem zweiten Zeitabschnitt mit der Berufung Schlicks 1922 nach Wien die personelle und philosophische Basis für die an dem Wintersemester 1924/25 von Schlick eingerichteten regelmäßigen Donnerstagabendtreffen geschaffen. (Stadler, S. 207)
Der ,,Wiener Kreis'' (der Name stammt von Neurath) trat 1930 mit einem Kongreß in Prag und der Publikation der Zeitschrift Erkenntnis erstmals an die Öffentlichkeit. Stadler läßt eine Reihe inhaltlich verwandter Initiativen und Vereinigungen Revue passieren (Stadler, S. 210ff): den ,,Österreichischen Monistenbund'', den ,,Freidenkerbund Österreichs'', die ,,Ethische Gemeinde'' und den ,,Verein ,Allgemeine Nährpflicht'``. Karl Menger hat die Atmosphäre der Treffen in der Boltzmanngasse (im Mathematischen Institut) als einen interdisziplinären Arbeitskreis mit Zentrum Moritz Schlick anschaulich beschrieben (Stadler, S. 235ff). Die Treffen wurden von Rose Rand protokolliert und auf Neuraths Betreiben in ein Manuskript gefaßt. Neurath an Rand:
Auch wäre mir lieb, wenn Sie einmal zusammenstellten, welche Menschen jemals am Zirkel teilnahmen und wann usw. Das sind Dinge, die bald vergessen sein werden und doch historisch einige Wichtigkeit haben können. (vgl. Stadler, S. 268f)
Das Dokument, das leider nur Sitzungen vom 4.12.1930 bis 2.7.1931 umfaßt, wird, zusammen mit Protokollmitschriften anderer Teilnehmer, von Stadler S. 275-363 erstmals veröffentlicht. Insbesondere die Diskussionen nach Gödels Referat zu seinem Unvollständigkeitstheorem (15.1.1931) und Carnaps an drei aufeinanderfolgenden Terminen gehaltenem Exposé über Metalogik (ab dem 11.6.1931) sind einzigartiges Quellmaterial.
Der zeitgeschichtliche Kontext wird durch Stadlers Präsentation diverser, parallel wirksamer Forschergruppen und wissenschafts-pädagogischer Initiativen vervollständigt. Ein Kreis um Karl Menger, ein anderer unter der Ägide des Philologen und Philosophen Heinrich Gomperz, die Kontakte Schlicks und Waismanns mit Wittgenstein und die Sonderstellung Karl Poppers gehören in diesen Zusammenhang. Die Recherche bietet auch Einblicke in persönliche Animositäten, wie den berüchtigten Plagiatsvorwurf Wittgensteins gegen Carnap (Stadler, S. 475ff) oder Poppers lebenslange Verstimmung darüber, von Moritz Schlick nicht zu den Treffen des Wiener Kreises eingeladen worden zu sein (Stadler, S. 531f). Besonders aufschlußreich sind einige Vignetten aus dem ,,Untergang der Vernunft'', der hochschulpolitischen Durchsetzung des Ständestaates: die traurige Demontage des liberal-internationalistischen Denkens zugunsten katholisch-nationaler und später nationalsozialistischer Diktate. (Stadler, S. 566ff)
Ein Trauerspiel beschließt den Band, die Akten rund um den Kriminalfall Nelböck, den Mörder Schlicks, der 1937 zu 10 Jahren Kerkerstrafe verurteilt und im Oktober 1938 vom Nazi-Regime bedingt (zu kriegswirtschaftlicher Tätigkeit) entlassen wurde. In der Sammlung Stadlers findet sich eine berührende Episode (Dokumente 4-6). Der Pädagoge Richard Meister wendet sich mit der Bitte um Information an den Sohn Schlicks. Der akademische Senat plant eine Stellungsnahme gegen posthume Angriffe auf seinen Vater, speziell gegen den anti-semitischen Hetzartikel eines ,,Dr. Austriacus'' (Johann Sauter) anläßlich des Mordfalles. Das Schreiben Meisters an das Rektorat vom 27.10.1936 ist erhalten.
Nach der persönlichen Meinung des Unterzeichneten stehen die betreffenden Artikel nicht auf der Höhe wissenschaftlicher Beweisführung. Diese Feststellung glaube ich hier machen zu müssen, obwohl oder gerade weil ich wissenschaftlich sowohl in den erkenntnistheoretischen wie in den ethischen Grundfragen eine andere Lehrmeinung vertrete. (Stadler, S. 934f)
Ein Votum, das Respekt gebietet; der akademische Senat verwässerte es denn auch umgehend zur Unkenntlichkeit.
Die Ideologie der ,,Vaterländischen Front'' und das christliche Weltbild, welche sich in der Folge an den Universitäten etablierten, setzten Geschichtsverbundenheit und organisches Denken gegen Aufklärung und formale Konstruktionen. Eigentümlich klingt daher dieses Resumeé:
So sehen wir am Beispiel des Logischen Empirismus vor seiner Zerschlagung und der erzwungenen Emigration aus Mitteleuropa, wie die wissenschaftliche Philosophie und Weltauffassung im internationalen Rahmen aufblühte und gedieh. Ihr Vermächtnis kann wohl nur darin bestehen, sie kritisch und kooperativ ohne museale Nostalgie weiterzuentwickeln. (Stadler, S. 86f)
Haben O. Neurath, R. Carnap, H. Feigl oder K. Gödel ,,uns'' ein Vermächtnis hinterlassen wollen? Solchen Denkfiguren gegenüber hielten sie skeptische Distanz. Die Frage ist, ob sie ihnen nicht dennoch anheimfallen. Ob sich Erinnerung und Solidarität anders rekonstruieren läßt, als im Generationenmodell, das Vorfahren und Aufträge, Nachgeborene und die Weiterführung von Überlieferungen vorsieht. ,,Der Untergang der Vernunft'' hat vieles endgültig zerstört. Heute findet jemand ein Vermächtnis vor und will es kritisch weiterführen.
Friedrich Stadler hat die Spuren gesichert. Auf seine Arbeit müssen sich zukünftige Untersuchungen zurückbeziehen. Dennoch passen Kontingenz und Sinnperspektive nicht bruchlos zusammen. Der Wiener Kreis ist gesprengt, eine tragische Erfolgsgeschichte, irreversibel in die Theorieentwicklung der analytischen Philosophie eingegangen. Stadlers Gesichtspunkt macht aus einer Menge von Polizeiaktionen einen Untergang, um an der Auferstehung teilzuhaben. (Die Vernunft ist ein metaphysischer Begriff.)
Es fehlt das Mittelstück, die philosophische Entwicklung der letzten 50 Jahre. Das Aufweichen der anti-metaphysischen, szientistischen Restriktionen in den Vereinigten Staaten, ein Linksruck innerhalb der Heideggertradition und der beiden tumultuöse Begegnung in Semiotik, Ästhetik und Gesellsschaftsphilosophie. An diesen Turbulenzen vorbei kann ,,die Vernunft'' kein ernst zu nehmendes Bündnis mit Vorfahren schließen. Historisches Bewußtsein leidet an einer chronischen Sehstörung: Nachfolger betrachten auch die vergangenen Provokationen als respektabel. Sie können ihre Sprengkraft bestenfalls heraufbeschwören. Vernunft und Chuzpe sind nicht vererbbar.
Aus dem Protokoll vom 26.2.1931. Nach Felix Kaufmann übt ,,das Gegebene'' einen Zwang auf die Sprache aus. Hans Hahn und Moritz Schlick sprechen über seine logische Struktur.
Neurath: eine Bezugnahme auf das Gegebene ist in jedem Sinn überflüssig. Es gibt nur Aussagen und zwar Protokollaussagen und physikalische Aussagen. In diesen Aussagen kommt das Gegebene nicht vor. (Stadler, S. 290)
Kritisch und kooperativ? Die Ungeniertheit, mit der damals Argumentationsketten durchtrennt wurden, geht hoffentlich im nächsten Durchgang nicht verloren.