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Die beiden anderen Bücher betrachten die Materie aus abgesicherterer historischer Distanz. Uebels Monographie betrachtet Neurath als Zeitgenossen, ,,Otto Neurath: Philosophy between Science and Politics'' ist ein kulturgeschichtliches Porträt. Teil 1 basiert auf einer in Graz eingereichten Dissertation von Lola Fleck, im zweiten Teil bietet Thomas Uebel an Hand von Neuraths berühmter Schiffsmetapher einen Längsschnitt durch dessen intellektuelle Entwicklung, den Teil 3 steuern Nancy Cartwright und Jordi Cat bei. Er handelt von der methodologischen Interferenz von Wissenschaft und Politik, exemplifiziert an einem Neurathschen Terminus aus der Protokollsatzdebatte: ,,Ballungen''. Lola Fleck bietet einen sorgfältig recherchierten Überblick der Lebensumstände Otto Neuraths. Sie zeichnet die Politisierung des Wiener Bürgersohns und Ökonomen im Kontext des Austromarxismus und der Verstaatlichungsdebatte nach dem Zusammenbruch der alten Ordnung 1918.

Das Zwischenspiel im ,,Zentralwirtschaftsamt'' der Münchner Räterepublik wird ausführlich aus den Quellen dokumentiert. (Fleck, S. 43 ff) In kleinen Episoden wird deutlich, welche Zumutung Neuraths Theorien für zeitgenössische Kollegen darstellten. Max Weber, der im Münchner Prozeß zu seinen Gunsten aussagte, schrieb ihm im selben Jahr

that he considered his schemes for planned economies an ,amateurish, objectivly absolutely irresponsible foolishness that could discredit ,socialism' for a hundered years and will tear everything that could be created now into an abyss of a stupid reaction. (Fleck, S. 54)

Bekanntlich bedurfte die reaktionäre Politik der ungewollten Schützenhilfe akademischer Agitateure nicht.

Die Darstellung der Zwischenkriegszeit in Wien (Fleck, S. 56ff) macht deutlich, daß Neuraths Teilnahme am Wiener Kreis nur eine seiner zahlreichen Aktivitäten im Bereich der Volksbildung, Genossenschaftsbewegung, Museumspädagogik und internationaler kulturpolitischer Initiativen darstellte. Als Organisator unentbehrlich, war er im Kreis der Universitätsprofessoren nicht völlig integriert.

He was the only leading member of the group who did not hold a university position, still worse, he had been dismissed from his university lectureship. Neurath always aimed to create unity within the movement by citing the works of the others and stressing the goals of the group and their common task. But he considered himself diminished in the estimation of others, especially by Schlick. (Fleck, S. 79)

Der genaue Blick auf die soziale Dynamik der Gruppe ergibt - analog der Entflechtung ihrer wissenschaftstheoretischen Positionen - ein gemischtes Bild. Der Austrofaschismus beendete Neuraths Tätigkeit in Österreich, die Ermordung Schlicks setzte die Aktivitäten des merklich ausgedünnten Wiener Kreises ein definitives Ende. Konferenzen in Paris, Prag, Kopenhagen, Cambridge, England und Cambridge, Mass. führten die Agenda der Einheitswissenschaft weiter. Nach der Flucht aus Holland fand Neurath bei einem Bekannten in Oxford Unterkunft.

Neurath loved England. He liked his small house on Headington hill, and he was delighted when he could find another in the same neighbourhood; he liked his garden and his landlady; he was grateful to those who were hospitable to him; he was amused by the Oxford College System. (Fleck, S. 86 f)

Der sanfte Lebensabend eines revolutionären Denkers.

Thomas Uebel steuert das philosophische Mittelstück bei. Die Metapher vom ,,Schiff auf offener See'' wurde (maßgeblich durch Quines Vermittlunggif) zu einem zentralen Orientierungspunkt der Kritik an Letztbegründungen. Die bekannteste Version stammt aus dem Jahr 1932:

Wie Schiffer sind wir, die ihr Schiff auf offener See umbauen müssen, ohne es jemals in einem Dock zerlegen und aus besten Bestandteilen neu errichten zu können.gif

Insgesamt findet sich das Bild bei Neurath an fünf verschiedenen Stellen. Die Interpretation der unterschiedlichen Kontexte plaziert es in ein ausgedehntes geistesgeschichtliches Umfeld und entwirft die methodologische Option einer Theorie der Praxis an der Kreuzung zwischen Marx und Mach. Neuraths Kontroversen mit Schlick, aber auch mit Carnap, belegen die irritierende Kraft seiner Konzeption der Wissenschaftlichkeit auf unsicherer Grundlage. Zur Erklärung verweist Thomas Uebel auf den - bisher im Kontext des Wiener Kreises wenig beachteten - Umbruch der sozialwissenschaftlichen Methodologie in Deutschland. (Vgl. Uebel Boat, S. 95 ff) Darüber hinaus hatte nicht nur die neue Physik (Einstein) paradigmatische Funktion, auch die philosophischen Anstöße der vorhergegangenen Generation (E. Mach, L. Boltzmann) wirkten als Vorbild.

Der dominante Theorie-Strang, der sich aus der Wiener Debatte in die USA weiterentwickelte, war Carnaps Rekonstruktion der Wissenschaftssprache als eines Konglomerates aus empirie-bedürftigen theoretischen Vorgaben und theorie-gestütztem Beobachtungsvokabular. Diese Konstruktion ergänzt den Empirismus der Linie Hume-Mach durch die Beiträge der Entwicklungslinie Frege-Russell-früher Wittgenstein. Neuraths Schiff versteht man besser als Beharren auf der Intuition Ernst Machs.

Mach's positive science was built on measurable experience alone. Experience provides both the object and the method of investigation. The point of his theory was to understand science on this austere basis. (Uebel, Boat, S. 104)

Diese naturalistische Verfahrensweise wurde von Neurath, dem Sozialwissenschaftler, aufgenommen und von der Einschränkung auf Physik und Evolutionstheorie befreit. Die Schiffsmetapher signalisiert einen nicht-reduktionistischen Naturalismus:

In his mature theory, Neurath's concern was reflected in his demand that metatheoretical concepts be themselves explicable scientifically. Metatheory was not to be exempted from the control to which it subjected first-order theories. (Uebel, Boat S. 107)

1913, als Neurath seine Formulierung zum ersten Mal veröffentlichte, wendete sie sich primär gegen die ,,Idealtypen'' der deutschen Soziologie (C. Menger, F. Tönnies, G. Simmel). Analog zu Machs Invektiven gegen die ,,Metaphysik'' der Atommodells wendet sich Neurath gegen rationalistische Fundierungsversuche in der Gesellschaftswissenschaften. Systemkonstrukteure lügen, Pseudo-Rationalisten verstecken ihre metaphysischen Annahmen hinter dem Anschein formal korrekter Deduktionen.

Neurath's Boat teaches that rationality need not be lost just because foundations are missing. There remains the rationality of permanent reconstruction. The upshot is a radical conventionalism. (Uebel, Boat S. 132)

Inwiefern läßt sich das gegen den Vorwurf verteidigen, damit wäre de facto bloß der Jahrmarkt der Weltanschauungen legitimiert?

Bezeichnenderweise taucht Neuraths Schiff in seiner Besprechung von Spenglers ,,Der Untergang des Abendlandes'' auf. Die Metapher suggeriert nicht bloß Bodenlosigkeit: die Schiffer halten sich über Wasser, weil sie ein gemeinsames Gefährt benutzen. Vor lauter Enttäuschung über den Verfall ,,ewiger Werte'' schließt der Kulturrelativismus auf die Willkür der Sinnbestimmungen. Er übersieht die Zwischenschicht, auf der menschliche Tätigkeit immer schon ,,aufruht'': kommunikative Praxis als hermeneutische Bedingung auch der avanzierten wissenschaftlichen Theorien. Gegen Spengler gewendet besagt das ,,Schiff'': ,,processes like intersubjective communication and interpretation are part of the world that we must consider ,natural' for humans''. (Uebel Boat, S. 141) Der dritte Auftritt der Seefahrer ohne Hafen fällt in die Protokollsatzdiskussion im Wiener Kreis und wird von Thomas Uebel (in Ergänzung zur Darstellung in der Monographie) vor den Hintergrund der marxistischen Sozialwissenschaft gestellt. Otto Bauer hatte eine emanzipatorische Erkenntnistheorie reklamiert, die weder Mach und Avenarius, noch Poincaré leisten konnten. Schlick und Carnap kamen ebensowenig in Frage.

Situative Verdichtungen bedeutungstragender Artikulationen (,,Ballungen'') waren Neuraths Vorschlag - die Orientierungspunkte eines politisch motivierten Pragmatismus im Rahmen der Aufklärungstradition. Bedeutungen sind niemals endgültig fixiert. Der Refrain wirkt bisweilen ermüdend: ,,We must investigate cognitive practice and forswear aprioricism across the board.'' (Uebel Boat, S. 158) Die Neurath-Exeges stößt an dieser Stelle auf einen Schwachpunkt der pauschalen Deklarationen zugunsten von Offenheit, Ganzheitlichkeit und Flexibilität. In Quines Verwendung, d.h. verbunden mit strikt eingeklagten Standards der (Semantik der) Prädikatenlogik erster Stufe, gibt der Holismus einen interessanten Kontrast. Den Äußerungen Neuraths fehlt diese methodische Stringenz. Kein Wunder: sie richten sich gerade gegen derartige Regulationsmechanismen. Nur sind die Äußerungen damit ihrerseits bloße Episoden. Die Frage, wieso sich minutiöse Forschungsarbeit damit befassen soll, Herkunft und Implikationen eines Begriffes wie ,,Ballungen'' zu erkunden, dessen Pointe in der Unschärfe und Vergänglichkeit begrifflicher Konstellationen liegt, drängt sich auf.

Im gegenwärtigen philosophischen Diskurs nimmt Richard Rorty eine ähnlich zwiespältige Position ein: die Lebendigkeit der Auseinandersetzungen, die sein naturalistischer Pragmatismus provoziert, steht in krassem Mißverhältnis zum inhaltlichen (Leicht-) Gewicht seiner ,,erbaulichen'' Dekonstruktionen. ,,Ballungen'' für sich genommen tun niemandem weh, darum ist Thomas Uebels Strategie, Neurath im Kontext der Grundsatzfragen des logischen Empirismus zu behandeln, richtig gewählt. Themenstellungen wie ,,Where ,Ballungen' come from'' im 3. Teil des Neurath-Porträts laden zu breit ausgreifenden Streifzügen im Revier der Kulturgeschichte ein. Die methodologische Freiheit, welche Neuraths Konzept kennzeichnet, erlaubt eine assoziationsreiche Parade der unterschiedlichsten Theoretiker und Denkrichtungen. Rückblicke auf die Tradition der französischen Enzyklopädisten, Kant, John Stuart Mill, den Neo-Kantianismus und Vertreter marxistischen Denkens. Die Darstellung wird leicht zum ,,name dropping''.

Did Neurath read Plekhanov's essay on Labriola? &ldots; Plekhanov, who had been described by Lenin as the most educated intelligence of socialism, was a personal friend of Viktor Adler, the first leader of the Austrian socialists and father of Friedrich Adler, translator of Duhem. He was, moreover, as we have seen, involved in debates with Max Adler in Der Kampf. Labriola too was well known in the Austrian socialist group of which Neurath was a part. Wilhelm Ellenbogen was one tie. Ellenbogen was an economic expert and a friend of Viktor Adler who worked unsuccessfully with Otto Bauer to try to push through a number of socialisation projects. (Cartwright und Cat, S. 241f)

Ballungen von Eigennamen sind ein dünnes Medium für Erkenntnis. Der Glaube an proletarische Solidarität, internationalistisch orientierten Sozialismus und durchgängige Vergesellschaftung (vgl. Cartwright und Cat, S. 254) ist schön und gut. Das Fazit des abschließenden Teils lautet: Wir sitzen alle im selben Boot.gif

Dieses Sprichwort wirkt als anti-elitärer Appell und als Beschwörung menschenwürdiger Zustände in globaler Perspektive. Derartige Weisheiten finden allerdings im öffentlichen Verständnis problemlos neben ihren Antithesen Platz. ,,Das Boot ist voll!'' Wie ist daraus ein Widerspruch zum ersten Diktum zu machen? Das wird nicht ohne eine anspruchsvolle Theorie zu leisten sein, die der Agglomeration von Selbsterhaltungstrieb und Chauvinismus die Trennschärfe präziser systematischer Argumentationen entgegensetzt.


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h.h.
Sam Sep 25 18:08:52 MEST 1999