Erschienen in FALTER 17/91 S.33 und 18/91 S.33. Vernunftbegabt In Einzelfällen ist österreichischer Charme noch immer unschlagbar. Einen der wenigen Lichtblicke in Grigori Medwedews Buch über Tschernobyl stellt unsere Haltung zu Zwentendorf dar. „Hier ist ein Detail zu erwähnen … nämlich, daß die österreichische Bevölkerung durch freiwillige Spenden die Kosten des KKW übernahm; nach Bezahlung der beteiligten Firmen ließ die Regierung das Kraftwerk konservieren.” So günstig ist ein guter Ruf selten zu haben, auch wenn als mildernder Umstand gelten kann, daß diese Geschichte der Symmetrie des Märchens folgt. Als Spiegelbild der völlig verstrahlten, mit einem Betonmantel hermetisch abgedichteten Ruine drängt sich ein Kernkraftwerk im Stand der Unschuld, in einem Land von guten Menschen, auf. Soll sein. Die folgenden Überlegungen werden versuchen, etwas vom guten Willen, in dessen Genuß wir unversehens geraten sind. zurückzugeben: Die nukleare Katastrophe ist absurderweise immer und nur zu bestimmten Zeiten aktuell. Gerade weil sie jeden Augenblick virulent werden kann, wird sie zur Entlastung dem Auf und Ab der Katastrophen- und Kriegskonjunktur zugeschoben; ein ganz gewöhnlicher Wahnsinn. Zur schnelleren Verständigung konzentrieren sie sich auf Krieg; in ihm sind die Entscheidungsabläufe wenigstens theoretisch scharf umrissen. Die für Störfälle der „friedlichen Nutzung” typische Anhäufung von Profitgier, Inkompetenz und Schlamperei verdeckt eine Möglichkeit, auf welche sich die Ethik gerne konzentrieren möchte, nämlich den von Menschen bewußt herbeigeführten Weltuntergang. Allerdings leidet die Sittlichkeit – bei dieser Aufgabe kein Wunder – unter Konzentrationsschwäche. Niemand kann Tag und Nacht dem Nichts ins Auge sehen. Das ist noch harmlos ausgedrückt, denn „sehen” ist schon viel zu menschlich. 1st der gesamte Themenkreis nicht so gigantisch, daß die philosophische Nachprüfung der passenden Verhaltensweisen nur mehr pathetisch leerläuft? Von Kant ist uns die geniale Aussicht überliefert, um gut zu sein wäre wesentlich, daß man sich an Vernunft hält. Die Fähigkeit, von eigenen Wehwehchen und dem Vorteil von Bezugsgruppen um des Gemeinwohls willen zu abstrahieren, ist nicht nur edel, sondern auch rational. Nur diese Einstellung kann nämlich einer unparteilichen Prüfung standhalten. Für Kant folgt das aus der Definition des Sittlichen als allen Menschen gemeinsames, vernünftigen Uberlegungen zugängliches Gut. Die Aussicht scheint im Zeitalter der Atombombe wie gerufen zu kommen. In ihrem Sinn ist es klug und als Bonus auch moralisch geboten, das Instrument, das unterschiedslos alle auslöscht, entsprechend bedingungslos zu verwerfen. Damit sollte eigentlich alles klar sein, ist aber nicht. Vernunft spielt in diesen Verhältnissen ungefähr die Rolle eines vollen Portemonnaies für Reisende im Busch. Erstens: Um die Expedition auszurüsten, brauchen sie Geld. Zweitens: Wo sie hinführt, gilt es nicht. Drittens: Wenn sie überleben wollen, müssen sie sich Überbrückungshilfen zwischen ihrem Besitz und ihren Bedürfnissen im fremden Territorium ausdenken. Die Verzweiflung der Kantianer ist das böse Erwachen, daß ihr Zahlungsmittel, wo sie hingeraten sind, die Leute nicht beeindruckt. Sie sagen: „Wenn ihr Monopoly spielen wollt, tut es zu Hause. Wir waren bei der Verteilung der Scheine am Anfang nicht dabei.” Die Macht der Vernunft hingegen kommt meistens ohne Widerrede der noch nicht zur Vernunft Gebrachten durch. Es bedarf keines exotischen Beispiels, um die Zwickmühle der im Westen entwickelten welt umfassenden Denkprinzipien angesichts der atomaren Bedrohung zu beleuchten. Schon lange vor den ersten Detonationen war Selbstkritik zu hören. Die Allgemeinheit eines für alle Menschen verbindlichen, vor dem Gerichtshof Gottes oder der Weltgeschichte oder zumindest des aufgeklärten Publikums einklagbaren Verhaltenskodex wurde als eine Sache der Kapitalisten und ihrer Missionare sichtbar. Weltweites Monopoly mit dem Sittengesetz als Spielanweisung. Das ist die Kernspaltung, die durch das gute Gewissen der Industriestaaten geht. Ein Exote in den eigenen Reihen: Wittgenstein. Die Aussicht einer philosophischen Lehre über das richtige Leben kommentiert er so: „Wäre jemand imstande, ein Buch über Ethik zu schreiben, das wirklich ein Buch über Ethik wäre, so würde dieses Buch mit einem Knall sämtliche anderen Bücher auf der Welt vernichten.“ Es wäre eine Atombombe des Besserwisser. Die Bruchlandung der tiefen Wünsche nach sittlicher Rechtfertigung besteht in diesem Dilemma: Wüßten wir wirklich ein für allemal, wie’s geht, wir könnten den Rest vergessen. Ein Regelsystem, das die globale Vernichtung ausschließt, wäre selbst eine Erscheinungsweise globaler Vernichtung. Schlicht und einfach: Ein sicheres Mittel gegen die Atombombe wäre sicher ebenso tödlich. Das liegt daran, daß Menschen als unsichere Wesen definiert sind. Auf der einen Seite drängt der Überlebenstrieb zu einem Rezept gegen die Selbstzerstörung. Vernunft gegen den hellen Irrsinn scheint keine schlechte Idee zu sein. Aber Vernunft als Allheilmittel ist auf der anderen Seite ein wohlbekanntes Sedativ. Es steht nur einigen, nur unter bestimmten Bedingungen, zur Verfügung und für die andern spiel’n sie’s nicht. Das ist den Philosophinnen dieses Jahrhunderts nicht verborgen geblieben. Sie haben sich abgewöhnt, der fragenden Menge Reichtümer aus ihrem Spielkapital anzubieten. Aber Vernunft einfach als kaputt zu erklären ist auch wieder grobe Energieverschwendung. Zwischen dem Maximalprogramm, dessen ständige Fehlerfüllung ihr nachhängt. und ihrer Wirkungslosigkeit liegen einige Übergangsstadien. Wenn schon kein Buch über Ethik, zumindest Gedankensplitter. Aushilfe in dem Bereich, in dem die die Deutschmark zwar nichts helfen, aber vielleicht gewechselt werden können. Ein Einwand drängt sich sofort auf. Das ist noch an den Grenzen die Auswirkung des Weltwährungssystems. Allerdings, Nachdenken und Geldwirtschaft sind ansteckend. Mit beidem ist die unschuldige Natur seit längerem kontaminiert. Literatur: Bruce G. Blair; Henry W. Kendall: Accidental Nuclear War. In: Scientific American 263/6 (December 1990) Grigori Medwedew: Verbrannte Seelen. Die Katastrophe von Tschernobyl. München–Wien 1991. Hanser Ludwig Wittgenstein: Vortrag über Ethik. Frankfurt 1989. Suhrkamp Entscheidungsfähig Intellektuelle wollen immer auf allen Seiten mitnaschen. Von katastrophalen Entwicklungen sind sie darum meistens irritiert. Gut. dann taugen sie in diesen Fällen nicht zur Orientierung. Die bewundernswerten Vorbilder sind anderswo zu finden. Ich hätte am 26. April 1986 in Tschernobyl gern gehandelt, wie der Aufseher des dritten Kraftwerkblocks, Juri Eduardowitsch Bagdasarow. Er entdeckt, daß Wasser aus dem Kühlsystem seines Reaktorblocks zur Katastrophenbekämpfung abgezweigt wird und verlangt vom Chefingenieur die Erlaubnis, seinen Reaktorkern abzuschalten. „Das wird ihm von Fomin untersagt. Gegen Morgen fährt Bagdasarow den Block auf eigene Verantwortung ab und überführt ihn in das Regime der Abkühlung, wobei er Wasser aus dem Abblasebecken zu-speist.” Bagdasarow ist einer der Helden im Tschernobyl-Epos Grigori Medwedews. Der Megaknall wäre vermeidlich gewesen, hätten sich fünf weitere verantwortliche Ingenieure wie er verhalten. Das scheint Grund zur Hoffnung, selbst im Kriegsfall. Ein hohes Maß an Sittlichkeit kann die Katastrophe vielleicht doch aufhalten. Es kommt nur darauf an. die Fähigkeit, für andere Verantwortung zu tragen. so sorgfältig auszubilden wie die Maschinerie des Schreckens. Wenn die Vernunft uns das nich t garantieren kann, nehmen wir alles, was sich sonst anbietet. Sanktionen, Bewunderung und Uberlebenstrieb. Bis jetzt hat es recht und schlecht ausgereicht. das Ärgste zu verhüten. Die Philosophen sollten sich ein Beispiel daran nehmen. Das tun sie auch und mobilisieren die verfügbaren Reserven rationaler Überredungskunst. Zwei Strategien bieten sich an. Die eine besteht darin, alle Konzentration auf das Wesentliche zu bündeln und davon den Umschwung zu erhoffen. Die andere im umsichtigen Abwägen der beteiligten Interessen; Reflexion als Friedensstiftung. Letztes Mal war bereits von der Konzentrationsschwäche die Rede. die nachdenkende Menschen der Bombe gegenüber befällt. Eine Reaktion für Philosophen ist, sich umso vehementer als aufrüttelnde Wächter zu betätigen. Günther Anders und, durch eine Generation getrennt, Ernst Tugendhat sind Beispiele dafür. Der berühmte kategorische Imperativ Kants verlangt, daß alle sittlich vertretbaren Handlungen ohne Ansehen der Person und Umstände all-gemeine sein müssen. Darin steckt ein ideologisches Moment, dennoch pressen Anders und Tugendhat aus dieser Vorschrift einen heilsamen In-halt. Anders greift zur Nothilfe der parodistischen Verdrehung der eingefleischten Formel. .,Habe nur solche Dinge, deren Handlungsmaximen auch Maximen deines eigenen Handelns werden könnten.“ Dieser Imperativ ist als permanentes Schrillen der Alarmglocke gedacht. Wie soll es zu-gehen. daß Dinge handeln und uns ihre Richtlinien als moralische Gebote vorgeben? Anders verkennt nicht, daß Sachzwänge in der Regel schwerer wiegen als persönliche Überlegungen. möchte aber andererseits die Verantwortung des handelnden Subjekts nicht aus dem Spiel lassen. Der Ingenieur Juri Bagdasarow hat darauf geachtet. daß der in beinahe allen Hin-sichten übermächtige Reaktor den-noch unter seiner Kontrolle blieb. Das ist absurd und doch auf seine Weise tröstlich, wie die Geschichte von David und Goliath. Ernst Tugendhat rüttelt. um das Maximum an Abrüstungsbereitschaft zu erzielen, an einer anderen Selbst‑wärtige Machtkonstellation einen „phantastischen atlantischen Ethnozentrismus” und ruft zur – wenn not-wendig, einseitigen – Beseitigung des nuklearen Potentials der Westmächte auf. Das „qualitativ Neuartige und Einzigartige am Atomkrieg (besteht) in der Vernichtung des Ganzen selbst”, und Menschen, die nicht anders können, als sich aus einem ihrer Einzelexistenz übersteigenden Ganzen zu verstehen, kapitulieren vor ihrer innersten Bestimmung, wenn sie die atomare Auseinandersetzung ohne Widerspruch hinnehmen. Noch ein-mal Bagdasarow: Sich dem Gebot des Vorgesetzten entgegenzustellen ist in so einem Fall das einzige, was menschlichen Aktivitäten noch Sinn gibt. Das sind radikale pazifistische Stellungnahmen. Vermittlungsversuche mit größerem realpolitischen Anspruch konnten nicht ausbleiben. Unlängst hat Dieter Henrich das Hegelianische Prinzip, daß individuelle Einsicht in eine Wahrheit niemals so zwingend sein kann, wie die vernünftige Konfrontation dieser Überzeugung mit den geschichtlichen Umständen. in einer „Ethik zum nuklearen Frieden” zur Geltung gebracht. Es sei eine alarmierende Einseitigkeit. zu fordern, daß immer und überall alles zu geschehen hat. um die Bombe loszuwerden. Seine Intervention nimmt die Aussichtslosigkeit zur Kenntnis. ..dem absoluten Gebot durch einen Appell zur sittlichen Eindeutigkeit auch ebenso unmittelbar wirkliche Geltung zu verschaffen“. Mit der Brechstange kommt man da nicht durch. besser, geduldig und mit einer Portion von List auf längerfristige Überzeugungsprozesse zu vertrauen. Vernunft nicht in geschliffenen Paradoxien direkt auf dieses Monstrum hetzen. sondern sie. mit Strahlenschutz versehen, in diplomatische Dienste treten lassen. Sie schonen, da-mit sie hei der Entschärfung der Situation mitreden kann. „Sowohl der Kreuzzug zugunsten der nuklearen Abrüstung wie auch die emotionslose Strategieerkundung haben auf dem Weg zum nuklearen Frieden ihr jeweils begrenztes Recht.“ Extremismus ist gerade in hochexplosiven Umstanden fehl am Platz. Gescheite Leute eignen sieh zur Bewältigung von Spannungen besser als zur Prophetic. So kommt es. wie es kommen mußte. Sobald die Diskussion beginnt verteilen sieh die Gewichte auf beide Seiten. Auf diese Weise ist kein Krieg zu gewinnen. und das ist ja die Absicht. Zu verhindern ist er allerdings durch Auseinandersetzungen über die erforderliche Radikalität der Ethik auch nicht. Zuerst mobilisiert ein offen-sichtlich brennendes Problem das all-gemeine Interesse. dann fahren sich die Vorschläge zu seiner Lösung in einen Streit der Schulen und politischen Lager fest. Und darauf wieder zeigt sich die Öffentlichkeit schockiert und schiebt die Schuld dafür, daß nichts geschieht, den Fachleuten zu. Mitten in diesem Argumentstau steckt die Überzeugung, daß etwas getan werden muß. Für die meisten Betroffenen bedeutet das, dort anzupacken. wo es gerade möglich ist. Philosophie setzt auch in diesem Schlamassel noch darauf, die verfahrene Situation durch Nachdenken in Bewegung zu bringen. LITERATUR: Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. Bund 1. München 1988. Hanser Dieter Henrich: Ethik zum nuklearen Frieden. Frankfurt 1990. Suhrkamp Grigori Medwedew: Verbrannte Seelen. Die Katastrophe von Tschernobyl. München–Wien 1991. Hanser Ernst Tugendhat: Nachdenken über die Atomkriegsgefahr und warum man sie nicht sieht. Berlin 1986. Rotbuch Verlag