Erschienen als: Zwischenstationen in: Webfictions. Zerstreute Anwesenheiten inelektronischen Netzen. (Hrsgg. von Manfred Faßler, Ursula Hentschläger, Zelko Wiener). Wien 2003. S. 162-167 Ursula Hentschläger und Zelko Wiener in einer email – Korrespondenz mitHerbert Hrachovec, Dezember 2001 – Berlin : Wien W+H: Sie zählen zu den wenigen Philosophen, die sich bereits seit langerZeit mit Kunst und mit neuen Medien beschäftigen. Seit wann arbeiten Siemit dem Netz und warum? HH: Begonnen hat es etwa 1993/94. Ich kam damals von einem Jahr imWissenschaftskolleg Berlin zurück nach Wien und stellte fest, daß meinComputer im Büro ein neues Kabel aufwies. Das war noch die Zeit vor dem WWWund Graphikdateien konnte man zwar schon gut transportieren, aber in derRegel nur am eigenen Gerät anzeigen und bearbeiten. Noch herrschten Smileysund ASCII-Art und ich muß gestehen, daß mich der asketische Reiz dieserZustände wohl unwiderruflich geprägt hat. Ich zucke bei Flash-Seiten nochimmer leicht zusammen. Das paßt ja auch zu deren Namen 🙂 W+H: Seit wann und warum bespielen Sie ihre eigene Domain? HH: Das ist zwei Jahre her und war ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Ich habe michab 1996 mit Linux vertraut gemacht und voller Staunen entdeckt, daß mandamit – nach einer anfänglich sehr steilen Lernkurve – kostenlosen und gutdokumentierten Zugang zu allen wichtigen Diensten des Internets erhält,darunter fällt auch „bind“, jenes Programm, das im Prinzip die Adressen-Auflösung im Netz bewerkstelligt. Ein sogenannter „nameserver“ gestattetdie Einrichtung von „domains“ und ist auf Linux relativ einfach zuinstallieren. Als ich soweit war, recherchierte ich, ob „philosophie.at“noch frei war. Das war der Fall – und ich machte den Fehler, drei Wochenzu warten. Danach war der Name bereits vergeben und ich wechselte auf„philo.at“. Ist auch angenehm kurz; auf der anderen Adresse findet sichderzeit eine Gemischtwarenhandlung. W+H: Was steht aktuell im Zentrum Ihrer Arbeit? HH: Im Moment habe ich eine Reihe meiner verschiedenen Web-Initiativen aufein open source „Content Managment System“ umgestellt. Aus philosophischerSicht ist es mir nicht recht, aber die Entwicklungsgeschwindigkeit im WWWverlangt verwaltungstechnisch den Einsatz von Datenbanken, dynamischer HTML-Generierung und die interaktive Einbindung der Benutzerinnen und Benutzer.Es reicht auch für den akademischen Anbieter nicht mehr, schlichte HTML-Seiten zu verfassen, zumindest nicht, wenn er im Wettrennen um dieAufmerksamkeit mitspielen will. Diesen Anspruch möchte ich zumindest miteinigen meiner Projekte erheben. Ich nenne drei: ein kleines Portal zurDokumentation innovativer Lehre am Institut für Philosophie(http://innovation.philo.at), ein Archiv elektronisch zugänglicherphilosophischer Texte, beginnend mit Diplomarbeiten und Dissertationen amInstitut (http://eprints.philo.at) und eine philosophische Audiothek(http://audiothek.philo.at). W+H: Das Web besteht aus vielen einzelnen und z.T. voneinander abgegrenzten Eigenwelten. Welche Community erachten Sie diesbezüglich als massgeblich? HH: Es ist schwer zu sehen, daß es eine Community gäbe, die sich alsStandard bezeichnen ließe. Abgesehen von den zahllosen Interessens- undThemengruppen, die sich entwickelt haben und die eher unverbunden friedlichkoexistieren, würde ich am ehesten an die Grobgliederung entsprechendgewisser technischer Vorgaben denken: die Anhänger des Internet Explorers,die Netscapeisten, die Google-Gemeinde, die Webmailer etc. Aber das sindnatürlich keine Communities, sowenig wie dieAutofahrerinnen, die alle gemeinsam im Stau stecken. W+H: Es kommt im Web zunehmend zu Hybriden von Magazinen, Kunstsammlungen und Ausstellungsräumen und auch zu einer Vermischung der Berufe. Als KünstlerInnen werden Veranstaltungen gemacht, TheoretikerInnen arbeiten als KünstlerInnen, VeranstalterInnen werden zu TheoretikerInnen usw. Was halten Sie davon? HH: Gestern habe ich mein Projektseminar damit begonnen, daß ich dieTeilnehmerinnen so begrüßte: „Guten Tag bei der Redaktionskonferenz. Wirmüssen in den nächsten 2 Stunden eine viertelstündige Rundfunksendungmachen. Ich bitte um Vorschläge.“ Zugegeben, es ist ein Seminar, das sichmit Radio beschäftigt, dennoch war die Verblüffung groß. Und am Ende hattenwir die Sache tatsächlich produziert. Die Studierenden fungierten alsInterviewer, Technikerinnen, Moderatorinnen und recherchierten. DieseMultiplizität hat etwas atemberaubendes und kann auch schwer danebengehen.Aber sie bringt Fronten durcheinander, die das Verständnis der neuenKommunikationssituation blockieren. W+H: Welche Erfahrungen gibt es in der Zusammenführung von Kunst undWissenschaft? HH: Jetzt könnte man gleich weitermachen und darüber reden, daß gerade auchdie Front zwischen Kunst und Wissenschaft beseitigt wird. Da würde ich aberdoch lieber beim Durcheinanderbringen bleiben, als beim Zusammenführen. Daßdiese Bereiche im neuen Medium überraschend aufeinandertreffen, ist keineFrage. Aber die Tatsache, daß ich ein Graphikprogramm bedienen kann, dasmir ehemals unerhörte Eingriffe in visuelles Material gestattet, macht ausmir noch keinen Künstler. Wenn ich einen Reifen wechsle, bin ich noch keinAutomechaniker. Ich schreibe immer wieder Katalogbeiträge und dabei ist dieerste Bewegung oft, den Produzenten deutlich zu machen, daß ich keinLautsprecher für ihre Gedanken bin, sondern eine Begegnung von außen. W+H: Wie bedeutsam ist der Zusammenhang von Kunst und Theorie an sich? HH: An diese Frage kann man sehr unterschiedlich herangehen. Eine wichtigeEntscheidung besteht darin, ob man die beiden Bereiche als prinzipiellvoneinander getrennt sieht, oder die Trennung als überholt betrachtet. Imersten Fall ergibt sich dann die Möglichkeit, mannigfaltige Parallelen undBeziehungen aufzubauen; im zweiten Fall wird in der Regel mitüberraschenden, hybriden Konstrukten operiert. Auf der einen Seite stehenetwa Gilles Deleuze oder Stanley Cavell, auf der anderen Paul Feyerabendoder Oswald Wiener. Die Bedeutsamkeit des Zusammenhangs von Kunst undTheorie stellt sich dementsprechend unterschiedlich dar. Nehmen wir„Österreich-Ungarn“. Als eine Möglichkeit bietet sich an, zwei Staatenanzunehmen und ihre Verbindungen zu erforschen. Die Alternative wäre,gemeinsame historische Erfahrung vorauszusetzen und die Staaten als derenAusgestaltung zu fassen. So, wie wir aus dem Geschichtsunterricht aufNationalitäten trainiert sind, verhält es sich auch in der Aufteilung desgesellschaftlichen Feldes in Kunst, Theorie, Politik etc. „An sich“ kannich dazu nichts sagen, es sei denn, darauf hinzuweisen, daß man sich dasbetreffende Verhältnis jeweils sehr genau ansehen muß. Und um eine konkretePosition anzugeben: Ken Goldbergs Installation „Telegarden“ im ArsElectronica Center Linz ist ein schönes Beispiel für die Multiplizität, mitder man hier zu rechnen hat. Sie verwirklicht einen techno-theatralischenRaum und provoziert eine neue philosophische Subdisziplin, die Tele-Epistemologie. Das ist mehr als eine Überschneidung. Das Projekt erschließtgleichzeitig ästhetische und theoretische Dimensionen. Ich würde dennochdazu raten, vorsichtshalber bei der Trennung zu beginnen. Es gibt zu vieleunausgegorene Mischwesen in diesem Gebiet. W+H: Können Institutionen grundsätzlich mit Experimentierfreudigkeitumgehen, bzw. sie fördern? HH: Der institutionelle Bereich, den ich überblicken kann, läßt eigentlichviel Spielraum für Experimente. Schon alleine deshalb, weil es ka um mehrkostet, ob man im Universitätsnetz E-Mails abfragt oder einen Nameserverbetreibt. Die Hindernisse liegen eher bei den Personen, von denen man nichtverlangen kann, daß sie jahrzehntelange Gewohnheiten schnell aufgeben.Allerdings ist zu bemerken, daß es zunehmend Bestrebungen gibt, dieelektronische Dimension ganz in den alten Gesetzesrahmen zurückzubiegen.Ich hatte letzte Woche einen E-Mail-Austausch mit Hubert Dreyfus ausBerkeley. Er nimmt seine Vorlesung auf und stellt sie als mp3-Dokumente zurVerfügung. Ich fragte ihn, ob ich in der Audiothek davon einen „mirror“machen könne. Seine Antwort: Von ihm aus gerne, nur muß er bei derUniversitätsleitung nachfragen, ob das gestattet ist. Ob ihm seine eigenenVorlesungen gehören! Die revolutionären Möglichkeiten derInformationsübertragung provozieren Befürchtungen, die früher niemandüberhaupt haben konnte. W+H: Inwieweit sind Theorien / Modelle an sich hilfreich? HH: Ich komme auf den oben erwähnten Telegarten und meine Warnung vor„Mischwesen“ zurück. Auf den ersten Blick hat eine Webinstallation nichtsmit erkenntnistheoretischen Fragen zu tun. Musiker, die im Konzertsaalherummarschieren, produzieren einen neuen Wahrnehmungsraum für Musik undähnlich verhält es sich mit der Fernbedienung von Geräten zumPflanzenwachstum. Die Frage, unter welchen Bedingungen wir gesicherteErkenntnis aufbauen, ist davon weit entfernt. Man kann das Subjekt-Objekt-Verhältnis natürlich, quasi als Katalogbeitrag, als Hintergrund für dieErforschung interaktiver Prozesse im Web herbeizitieren, aber das ist einschwacher Sinn von „hilfreich“. Die Inspiration des Telegartens liegtdarin, daß eine Idee in beide Richtungen wirkt, in den Bereich der Kunstund der Theorie. Um das richtig auskosten zu können, muß man die –unterschiedlichen – Regeln beider Bereiche kennen. Eine theoretischeStellungnahme wäre etwa, daß Wissen in diesem Fall primär Kompetenz imUmgang mit den Komponenten ist. Diese Demonstration ist hilfreich in einemweniger praktischen Sinn. Sie erlaubt es, das Kunstprodukt als Denkmittelgegen traditionelle Theorien einzusetzen und umgekehrt, an einem Experimentin Telekommunikation zusätzliche Dimensionen zu bemerken. W+H: Wo liegt die grosse Herausforderung an theoretischer Arbeit im Web? HH: Darin, daß wir nur das Modell der Buchkultur kennen, das im OnlineBereich nur sehr beschränkt gilt. Theoretische Arbeit ist vonEinzelpersonen getragen worden, hin und wieder von lokalen Arbeitsgruppen.Dann traf man sich auf Kongressen und Tagungen, um die Ergebnisseauszutauschen, von denen man durch Bücher und Zeitschriften Kenntnisbekommen hatte. Heute ist es möglich, weltweit vernetzt in Echtzeit zukooperieren. Ein Kollege in Karlsruhe schreibt das Programm, in das ichmeine Kommentare zu Nachlaßmanuskript 115 von Ludwig Wittgenstein, das inBergen, Norwegen am Server liegt, einfüge. Natürlich ändert sich damit derganze Duktus der Gedankenführung. Statt Fußnoten setzt man Hyperlinks, diewiederum bloß semistabil sind. Wenn wir einmal über die Phase hinaus sind,in der wir die Kolleginnen (m/w) mit Gadgets verblüffen, wird sich dieWissenslandschaft nachhaltig ändern. W+H: Wie verändern sich die Wahrnehmungsmuster? HH: Sagen wir einmal so: ein Tafelbild, eine Radierung, eine Buchseite undein Streichquartett erhalten einen ganz besonderen Reiz. Das ist einProzeß, den man bewußt mitmachen und genießen kann. Auffälliger istnatürlich die andere Seite, die Mutationen, die über die Konsumentenkommen. Also z.B. was mit einem geschieht, der im Handumdrehen auf Inhalteantworten kann, damit aber auch einer bedeutenden Belastung derUrteilskraft ausgesetzt ist. Oder der unsägliche Zwischenzustand, wenn einBrowser eine Seite von jenseits des Atlantiks lädt. Diese Mischung zwischenunfaßbarer Neuerung und der beinahe schon wieder abschätzigen Beurteilungvon langen Ladezeiten. W+H: Wie können Sie sich eine aktuelle Medientheorie vorstellen? HH: Schlecht. Sowohl auf der technischen, als auch auf der ökonomischen Seiteist derartig viel im Umbruch, daß eine theoretische Erfassung ständig davonirritiert werden muß. Zum Beispiel rückt durch die gegenwärtige Entwicklungder Funktechnologie die Bedienung des Garagentors und die Versendung einerE-Mail, was den Datentransfer betrifft, eng zusammen. Telefon über dasInternet oder voll digitalisierte Radiostationen über webcast sind andereIllustrationen. Es ist im Moment ausgesprochen schwer, einigermaßen nahe anden Fakten zu bleiben und dabei auch einen Überblick zu behalten. Nichtumsonst ist der Schwerpunkt der meisten Arbeiten zur Medientheorie entwederhistorisch oder abstraktiv. Damit meine ich: zwar theoretisch, aber nichtaus einer Bewährung gedanklicher Impulse am turbulent verlaufendenFortschritt hervorgegangen. Es gibt zur Zeit weltweit etwa fünf nachmeinen Standards theoretisch akzeptable Bücher über das Mobiltelefon. Wennman bedenkt, wie lange es gedauert hat, bis Elektrizität oder das Automobilals theoretische Herausforderung erkannt wurden, ist das ein tolles Tempo.Gleichzeitig ist aber deutlich, daß es sich nur um Zwischenstationenhandeln kann. Einer bestimmten Gattung der Medientheorie wird es nichtanders ergehen, als den Telekommunikations-Gesellschaften: sie sind akutgefährdet, im rapiden Umbruch ihren Kredit zu verlieren. Philosophinnen (umdas Stereotyp zu bemühen) sichern sich gegen solche Eventualitäten dadurchab, daß sie in vorsichtiger Distanz zur Tagespolitik bleiben. Das istvermutlich unter diesen Umständen keine schlechte Option. Die Ansätze vonMartin Seel gefallen mir in diesem Zusammenhang gut. („Bestimmen undBestimmenlassen. Anfänge einer medialen Erkenntnistheorie“. DeutscheZeitschrift für Philosophie 46 (1998). S. 351ff). W+H: Welche eigenen theoretischen Überlegungen resultieren aus dieserAuseinandersetzung? HH: Wie die Fragen zeigen, über die wir uns hier unterhalten haben, bestehtein starkes Interesse daran, Orientierungspunkte zu finden, die esgestatten, durch digitale Innovationen durcheinandergewirbelte Bereiche wieKunst, Konsum und Theorie einigermaßen zu re-organisieren. Das steht imZeichen schwer prognostizierbarer Produktentwicklungen, massiverökonomischer Interventionen und der sozial-politischen Risikoformationen,welche die Globalisierung mit sich bringt. Es gibt Theoretikerinnen (m/w),die für diese Aufgaben griffige Worte gefunden haben („Gutenberggalaxis“,„Agonie des Realen“, „Rasender Stillstand“, „Turbokapitalismus“). DieLektüre der betreffenden Traktate läßt mich allerdings schnell unbefriedigt. Ihr Ablaufdatum ist zu offensichtlich. Um Boden unter die Füße zu bekommen, schlage ich vor, solche großflächigen Perspektiven an den Apparaten zu erden, diezu ihnen Anlaß geben. Wir sind in einer Epoche, in der nicht die phantasie-geleitete Spekulation, sondern die Technik atemberaubende Aussichtenbietet. Die theoretische Neugierde wird in diesem Fall ein Auskundschaftenvon Programmen, Übertragungsmodalitäten und Kontrollmechanismen. Wenn ichmir vorstelle, was ein Software-Virus leistet und anrichtet, stelle ichfest, daß ich mindestens ein halbes Jahr brauchen würde, um diese Abläufephilosophisch auch nur zufriedenstellend zu thematisieren: das Schreibenals Tun, das Schreiben als Technik, der Übertragungsrahmen als Gefahr, dieRitualisierung, der Schleier der Unwissenheit, das Verhältnis vonKommunikationsbedingungen und Kommunikationsgehalt etc. Das Programm lautetalso: Hand anlegen und genügend Zeit behalten, sich über die ErgebnisseGedanken zu machen. Hilfsprogramme können überprüfen, daß Hyperlinks aufeiner Webseite alle funktionieren. Sie können nicht verhindern, daß einfunktionierender Link auf eine falsche Adresse verweist. Das eine ist diekorrekt notierte Verbindung, das andere die Frage, wohin sie gehen soll. Esist verlockend, die Verweisautomatik auf die Zieladresse fortzuschreiben.Aber das Bestehen einer Verbindung ist kein Grund dafür, am betreffendenOrt zu sein.