Dieser Beitrag im Magazin etc. erschien im Herbst 2013. 

 

Das Wort „Demokratie“ wird vielfältig gebraucht. Zwei zentrale Bedeutungen sind hervorzuheben. Einerseits bezeichnet es eine Staats- und Gesellschaftsform, andererseits ein Entscheidungsverfahren. Der erste Sinn kontrastiert Demokratie mit Monarchie, Diktatur oder Gottesstaat; im zweiten Sinn ist Demokratie ein Instrument zur Konfliklösung. Regelmäßige Abstimmungen unter gleichberechtigten Personen sind von Expertengutachten, Losentscheid oder Offenbarungen abgehoben. 

 

Die beiden Aspekte sind nicht zwingend kombiniert. Der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation wurde von Kurfürsten gewählt; ein Konklave stimmt über den nächsten Papst ab. Umgekehrt regeln Demokratien nicht alles durch Abstimmung. Weder die Sezession einer Provinz, noch Lynchjustiz stehen normalerweise zur Disposition. Das Selbstverständnis eines Staatswesens als Demokratie verlangt nicht, dass in allen Bereichen „demokratisch entschieden“ wird, andererseits machen solche Abläufe alleine noch keine Demokratie aus. Es muss nicht sein, aber es begründet den Erfolg und die gegenwärtige Krise der demokratischen Organisationsform: die Begründung für eine „Herrschaft des Volkes“ und die periodische Durchführung freier Wahlen passen vorzüglich zueinander.

 

An einem Slogan läßt sich die Erfolgsgeschichte gut diskutieren. „Die Wählerin hat immer recht.“ Das ist ein einleuchtender Merksatz und gleichzeitig eine gefährliche Selbstüberschätzung. Das Renommee westlicher Staatsverfassungen hängt daran, dass sich diese Kombination unter speziellen sozio-historischen Umständen erfolgreich behaupten konnte. Der Slogan ist eine Populärversion des konstitutionellen Kernsatzes „Alles Recht geht vom Volk aus“. Zweitens nennt er die Wählerinnen und Wähler und das ist ein schwieriger Punkt. „Das Volk“ kann auf verschiedene Weise zum Rechtgrund des politischen Geschehens gemacht werden, siehe die ehemaligen „Volksdemokratien“ oder religiös basierte Verfassungen. Das „Wahlvolk“ ist eine spezielle Erfindung der letzten beiden Jahrhunderte. 

 

Warum es „immer recht haben“ soll, ist allerdings nicht ohne weiters klar. Eine Antwort besagt, dass es sich dabei eben ums Prinzip handelt. Das Wahlvolk sei die letzte Instanz, „der Souverän“, wie man in Anlehnung an zurückliegende Auseinandersetzungen mit absoluten Monarchien sagt. Aber die Wählerschaft kann sich irren. Sie kann einem Gauner die Mehrheit zusprechen oder massiven Fehleinschätzungen unterliegen. Das politische Leben einer Demokratie lebt davon, dass es oppositionelle Parteien gibt, die der Auffassung sind, das Volk hätte sich geirrt. Seine „Rechthaberei“ gilt nur bezogen auf die jeweilige Legislaturperiode. Eine entscheidende Errungenschaft des demokratischen Verfassungsstaates besteht darin, alle paar Jahre die Möglichkeit eines Kurswechsels vorzusehen.

 

Diese Entwicklung wird in unseren Breiten – nicht ganz zu Unrecht – immer neu gefeiert. Durch sie wird gewährleistet, dass ein Staat handlungsfähig bleibt, und gleichzeitig verhindert, dass die Delegation sich verselbständgt. Macht geht zusammen mit einem memento mori. „Die Wählerin hat immer recht“ ist eine Ansage gegen den Absolutheitsanspruch einzelner politischer Akteuere. Gefährlich ist der Spruch, weil er das Zeitlimit unterschlägt, innerhalb dessen er gilt. Was sagt man dazu, dass die Wählerin nach absehbarer Zeit mit dem Gegenteil recht hat? Sehr tief scheint diese Rechtmäßigkeit nicht zu reichen.

 

Zur Verdeutlichung der Klemme dient ein Kommentar zu kurz zurückliegenden Schwierigkeiten in zwei Ländern: Irland und Griechenland. Im Juni 2008 veranstaltete Irland eine Volksabstimmung über den Beitritt des Landes zum Lissabon-Vertrag. Das Ergebnis war negativ, nach der Satzung der EU konnte das Vertragswerk damit nicht in Kraft treten. Zahlreiche Kommentatorinnen waren nicht der Ansicht, dass das Volk in diesem Fall „immer recht“ hat. Drei Millionen Wahrberechtigte hatten ein Projekt für zirka 490 Millionen Europäerinnen in der Hand. Dieses demokratisch erzielte Resultat schien undemokratisch.

 

Zynisch gesehen kann man so lange abstimmen lassen, bis das „richtige“ Ergebnis herauskommt. Und tatsächlich, im Oktober 2009 wurde das Referendum wiederholt. Während im Vorjahr 53,4% mit Nein votiert hatten, waren es beim 2. Versuch 32,9%, die Zustimmungsrate betrug 67,1%. Darüber rümpften viele Beobachterinnen die Nase. Die Eurokraten hätten viel darangesetzt, ein widerständiges Volk einzuschüchtern. Doch diese Position überzeugt nicht. Demokratien halten es sich zu Gute, dass sich Meinungen und Entscheidungen ändern. Die Frage, unter welchen Einflüssen Personen in der Wahlkabine frei von direktem Zwang zwischen Alternativen wählen, stellt sich an dieser Stelle nicht.

 

Das Alarmzeichen kommt aus einer anderen Richtung. „Wahlberechtigte“ werden im Rahmen eines Staates defniert. Sie sollen über die Zukunft eines Gemeinwesens bestimmen, dessen Angehörige mit ihnen die Legitimation teilen – und divergierende Lebenspläne verfolgen. Das Volk als Souverän kann, nach herkömmlicher Lehre, seine Entscheidungen auf eigene Verantwortung treffen. Allerdings ist das eine schmeichlerische Konstruktion. Der irische Staat war im Gefolge der Wirtschaftskrise alles andere als souverän. Ein Entscheidungsverfahren, das für eine ausgesuchte Bevölkerungsgruppe entwickelt worden ist, kollidierte mit tiefreichenden internationalen Abhängigkeiten eben dieser Gruppe. Die Heuchelei liegt nicht im 2. Referendum, sondern in der Auffassung, unter diesen Umständen wäre die bekannte Demokratie ein Patentrezept.

 

In Griechenland ist es gar nicht so weit gekommen. Dort sollte im November 2011 über ein von der „Troika“ geforderte Sparpaket abgestimmt werden. Nach massivem Druck zog G. Papandreou diesen Plan zurück. Auch hier verwiesen die Umstände eher auf einen Konstruktionsfehler der Demokratie, als auf Mißbrauch durch Bürokraten. Griechenland hatte mehrere Jahre lang vom  Euro profitiert, ohne für Krisen gerüstet zu sein. Natürlich kämpften die Wählerinnen für den erworbenen Wohlstand. Dass er maßgeblich an überstaatlichen Arrangements hing, welche der „Volkswille“ nicht kontrollieren kann, übersteigt den Horizont nationaler Selbstbestimmung..

 

Demokratie ist eine Staatsform, darin liegt schon das ganze Problem. Sie funktioniert – in unserem engeren Erfahrungsbereich – als politische Ordnung für völkerrechtlich anerkannte Nationen. Weltweite Entwicklungen (Wirtschaftskrisen, Umweltkatastrophen, Terrorismus)) überfordern die Staatenwelt. Ein Ökonom beschrieb (privat) folgende politisch unkorrekte, aber volkswirtschaftlich naheliegende Krisenintervention für Griechenland: Möglichst rasch mit hohen Geldsummen den Finanzmärkten entgegentreten und dem Land anschließend ein rigoroses Sanierungsprogramm aufzwingen. Genau das läßt sich mit einer souveränen Demokratie nicht machen. Das sollte ihre Stärke sein – und zeigt ihre Schwäche.

 

© Herbert Hrachovec

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