Stenographisch für Philosophen: Rorty beginnt bei der radikalen Geschichtlichkeit der hermeneutischen Schule (Heidegger, Gadamer), verbindet sie mit den holistischen Tendenzen der gegenwärtigen analytischen Philosophie (Quine, Davidson) und entdramatisiert das Ganze im Gefolge Deweys und des späten Wittgenstein. Der Hintergrund seiner Ausführungen ist ein historisches Bezugsfeld, in dem er unablässig Theoriezusammenhänge herstellt und ausspinnt. Als Vorläufer Heideggers reklamiert er Hegel, Kierkegaard und Nietzsche, als Nachfolger Foucault und Derrida.Die Opponenten im anglo-amerikanischen Raum sind jene szientifisch orientierten Philosophen, die von der Wissenschaftstheorie bis hin zur Ethik auf einen stabilen, kriteriengestützen Zugang zur ,,Realität'' pochen. Zur leichteren Verständigung inszeniert Rorty eine Gegenüberstellung zwischen zwei Philosophentypen:
Für einen Metaphysiker ist ,Philosophie', definiert unter Berufung auf die kanonische Abfolge Platon - Kant, ein Versuch der Erkenntnis gewisser ziemlich allgemeiner und wichtiger Dinge. Für den Ironiker ist die so definierte Philosophie der Versuch, ein bestimmtes, im Vorhinein gewähltes, Vokabular, das sich um die Unterscheidung zwischen Erscheinung und Realität dreht, anzuwenden und zu entwickeln. Der Streitpunkt zwischen beiden betrifft wiederum die Kontingenz unserer Sprache - ob das, was der Alltagsverstand unserer Kultur mit Platon und Kant gemeinsam haben, einen entscheidenden Hinweis darauf darstellt, wie die Welt ist, oder ob es nur das charakteristische Zeichen der Verständigung von Menschen ist, die ein bestimmtes Stück Raum-Zeit bewohnen. Der Metaphysiker nimmt an, daß unsere Tradition keine Probleme stellen kann, die sie nicht lösen kann - daß das Vokabular, von dem der Ironiker befürchtet, es wäre womöglich bloß ,griechisch', ,westlich' oder ,bürgerlich', ein Mittel ist, etwas Allgemeines zu erfassen.
Der Denkrichtung des Buches entsprechend ist der Metaphysiker Erbe der
Theologen, gegen die zeitgemäße Gebildete das Gewicht des Zweifels zu
übernehmen haben. Sie können ihrer fundamentalen Bezugssprache (,,final
vocabulary'') nicht sicher sein. Rorty will ihnen dennoch einen
Legitimationsrahmen geben.
Cartesianische Erkenntnisgewißheit und Kantische Moralauffassungen lassen
sich nicht mit ihren eigenen Mitteln widerlegen. Das gliche dem Versuch,
eine Basketball-Mannschaft mit Eishockey zu besiegen. Der Verlust der
Faszination solcher Fixpunkte läßt sich in der jahrhundertelang
ausgetüftelten Sprache der erkenntnistheoretischen Reflexion nicht
plausibel darstellen. Diese Aufgabe verlangt vielmehr, die ganze
Sichtweise auseinanderzunehmen und zu zeigen, wieviel unerwünschte
innersystematische Zwänge in dem vertrauten Gesamtbild stecken. Einem
solchen Nachweis galt Rortys Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der
Philosophie.
Dem dekonstruktiven Teil war dort ein wenig attraktiver
,,erbaulicher'' Teil gefolgt, der den Schock des Ausfalls der traditionellen
Grundmetapher durch hermeneutische Erwägungen abfangen sollte. Das neue
Buch ist ein zweiter, entschiedener zugreifender, Versuch, Ersatz für das
Verlorene zu finden. Es arbeitet mit Propaganda. Es war einmal, da wollten
wir etwas Übersinnliches verehren.
Mit Beginn des 17.Jahrhunderts versuchten wir, eine Liebe zur Wahrheit an die Stelle einer Liebe zu Gott zu setzen und dabei die wissenschaftlich beschriebene Welt als quasi-Gottheit zu behandeln. Mit Beginn des 18.Jahrhunderts versuchten wir, eine Liebe zu uns selbst an die Stelle einer Liebe zu wissenschaftlicher Wahrheit zu setzen, eine Verehrung unserer eigenen tiefen geistigen oder poetischen Natur, die als eine weitere quasi-Gottheit behandelt wurde.
Nun ist es Zeit, alle diese Liturgien zu vergessen und damit auszukommen, daß wir zusammen mit allem, was uns umgibt, durch und durch Zufall sind. Rorty schreckt, wie man sieht, vor extremen Vereinfachungen nicht zurück. Es würde gar nicht helfen, gegen seine groben Andeutungen die Subtilitäten etwa der Kantischen Religionskritik oder der Hegelschen Apotheose des Christentums ins Treffen zu führen. Er steht nicht in der deutschen Tradition, die hoffnungsvoll annimmt, das andächtige Zerkauen kanonisierter Texte würde Aufschluß über aktuelle Probleme geben. Rorty versteckt sich nicht hinter dem Berufsbild akademischer Forscher, die den Bezug ihrer Gegenstände zur Umgebung suspendieren, um erst einmal eine Reihe subtiler Distinktionen einzuführen. Klipp und klar: Nietzsche und Freud haben uns gelehrt, daß der Mensch nicht aus einem Subjektzentrum besteht, das sich in eigener Verantwortung mit Eigenschaften umgibt. Ihr Ich ist ein Netz von Eindrücken, Lernprozessen und Aktivitäten ohne Mittelpunkt.
Die Diskussion um die Postmoderne hat dieses Bild rundum
bekannt gemacht und 1983 hat Rorty das Schlagwort auch noch zur
Selbstbezeichnung verwendet.
Es taucht im neuen Buch nicht auf und wie
mir scheint mit guten Gründen. Einer ist bereits hier zu nennen: die
Abneigung gegenüber extravaganten politisch-eschatologischen Spekulationen
vom Typus: ,,Wenn die Macht total verschwunden ist, werden wir uns
logischerweise in der totalen Halluzination der Macht bewegen...''
.
Solchen spielerisch-panischen Selbstbesänftigungen von Intellektuellen,
die ihre angestammte Position verfallen sehen, gegenüber ist Rortys
Reaktion näher an Habermas. Zwar folgt er Nietzsche gegen die Metaphysik,
aber er verweigert seine antidemokratischen Konsequenzen. Nach Rortys
Meinung hat die Attacke auf die Tradition liberaler
Gesellschaftsphilosophie, die Nietzsche initiiert hat und die Heidegger
mit Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung verbindet, keine
vertretbaren Alternativen hervorgebracht. Das justament unglückliche
Bewußtsein ist in seinen Epilogen auf die zerstörte Aufklärungsmoral allzu
anfällig für endzeitliche Visionen, ,,im Taumel einer Revolte, die
nichts mehr mit der Revolution zu tun hat oder mit dem Gesetz der
Geschichte...''
.
Rortys Anregungen sind im Vergleich dazu unzeitgemäß. Wieviel wir von den großen Anklageschriften gegen den Liberalismus auch persönlich lernen können, aus den Debatten über die Verfassung der menschenwürdigen Gesellschaft sollten wir sie heraushalten. Was die westlichen Demokratien der überwiegenden Mehrheit ihrer Staatsbürger ermöglichen, hat Vorrang vor den Beschwerden einer Anzahl von Gebildeten, die Nietzsches ,,letzten Menschen'' gekommen sieht. Rortys Vorgehen ist zweistufig. In einem ersten Durchgang wird darauf hingewiesen, daß die bekannten Dualismen (Wesen/Erscheinung, Geist/Materie, Klugheit/Sittlichkeit) sich nach Hegel, Nietzsche und Heidegger nicht mehr halten lassen. In einem zweiten Durchgang wird jedoch gegen drohende totalitäre Folgen der Historisierung des menschlichen Wesenskerns wieder eine Dualität gesetzt, nämlich die Trennung zwischen öffentlicher und privater Sphäre.
Die ironischen Liberalen Rortys haben
eine Doppelexistenz zu führen: fasziniert werden sie am ehesten von den
genannten großen Denkern, ihre politische Aktivität aber wird sich auf
einer viel simpleren Ebene entfalten. Auf deutsche Verhältnisse übersetzt
geht es in etwa darum, Heideggers Grübeln mit der Politik Karl Jaspers' zu
verbinden. Das klingt sonderbar, weil wir gewohnt sind, profundes Denken
vom Systematischen auf die gesellschaftliche Nutzanwendung zu übertragen.
Aber Rorty hat sicher recht, wenn er auf den eklatanten Unterschied
zwischen den Erfordernissen des demokratischen Alltags und der
Selbstvergewisserung der in ihn eingespannten Intellektuellen hinweist.
Das Beispiel der DDR-Flüchtlinge ist deutlich genug. Die Lehrer der Nation
lassen sich von Vorbildern belehren, die sie in einen Gegensatz zur
Mehrheit der Bevölkerung bringen, und berufen sich auf höhere Werte, um
das Defizit zu ihren Gunsten auszugleichen. ,,Es sollte eine
Zwischenposition zwischen Philosophieprofessoren und Gott geben'' sagt
Rorty in einer Diskussion und auf die Frage, worin sie bestehen könnte,
gesteht er: ,,Ich habe keine Ahnung.''
Ins Systematische übersetzt ist das
die These, eine Theorie der kommunikativen Kompetenz als Bindemittel gegen
den Zerfall der aufklärerischen Hoffnung sei verlorene Liebesmühe.
Ein Einwand drängt sich auf. Sind solche Trennungen nicht, wie Rorty selbst an anderen Stellen ausführt, bloß der dogmatische Niederschlag der Unfähigkeit, die getrennten Teile kreativ in Beziehung zu setzen, also eine Art Kapitulation? Vermutlich würde Rorty zustimmen, gleichzeitig aber zu bedenken geben, es sei sinnvoller, keine Synthese zwischen Erhabenem und Lebensnotwendigem anzubieten, als im Dienste oberster Werte ein Lernprogramm für moralisch Unterentwickelte zu entwerfen. Die Philosophie der Platon-Kant-Tradition ist nicht von der Anmaßungen abzulösen, sie hätte privilegierte Einsicht in die Beschaffenheit der Welt. Die Folgen der Auseinandersetzung mit dieser Unterstellung und die Erfordernisse des sozialen Zusammenlebens im Weltmaßstab führen in zwei voneinander erdenklich weit entfernte Themenkreise: einerseits zur Vernunftautonomie, andererseits zum unausweichlichen Kompromiß als Basis der Gesellschaft. Wenn die Schüler Heideggers, Adornos und Foucaults sich darüber Rechenschaft geben, was sie als Angehörige des europäisch-amerikanischen Kulturkreises tagtäglich praktizieren, müssen sie zugestehen, daß ihre tiefen Einblicke in die Fragwürdigkeit dieser Verhaltensweisen nicht so recht greifen. Ein Ausweg ist, das Legitimationsproblem auf Kant zurückzudrehen, ein anderer, jenseits möglicher Legitimation das Auslangen zu finden. Oder man läßt sich auf den Widerspruch zwischen der sozialen Praxis und der Theorie der geistigen Vorbilder ein.
Der vorgeschlagene Dualismus klingt skandalös, weil er gerade die
bürgerliche Haltung markiert, von der jede halbwegs aufgeweckte
Bürgerstochter loskommen möchte: eine Trennung zwischen Bürgerpflicht und
Privatleben. Sie ist bekannt als der Beginn von Heuchelei. Seit der
Romantik ist die Aufhebung dieser Einschränkung forciert worden. Aber
Vorsicht ist angezeigt. Richard Sennett hat in einem überzeugenden Traktat
zu bedenken gegeben, daß gerade die romantisierende Forderung nach
Authentizität eine Hauptursache für die Nivellierung der Kultur geworden
ist.
Der Welt ohne historisch gewachsene Formen gegenüberzutreten,
führt zur Regression auf Intimstrukturen in breiter Öffentlichkeit.
Politiker entwickeln sich zu Schauspielern, die gewählt werden, weil sie
die Emotionen des Volkes gut verkörpern. Rortys Bürgerlichkeit ist eine
Aufforderung, dieser Entwicklung durch Relativierung und Reprivatisierung
des empfindsamen Erbes zu begegnen. Sublimation gehört nicht zu den
Lieblingsworten der Postmoderne. Sie oszilliert zwischen ungenierter
Infantilität und raffinierter Selbstbespiegelung. Rortys Schreibweise
dagegen ist weder eruptiv, noch akademisch, noch kokett. Die bestimmende
Haltung ist die Kenntnis der alten Ambitionen, gebrochen durch die
Bescheidenheit, die sich angesichts ihrer fehlgeschlagenen
Weltbeglückungstendenzen nahelegt. Hinter der Konfiguration von
Absolutheit und Ironie haben wir nichts zu suchen.