Daß gute Demokraten immer noch die maßgeblichen Figuren sind, wird wenig Enthusiasmus hervorrufen. Nochmals der Einwand: Wie soll etwas weitergehen, wenn die bürgerlich gemaßregelten libidinösen Energien nicht freier wirken können? Und von der anderen Seite: Was ist von den ideologiekritischen und ökonomischen Analysen der klassenspezifischen Blindheit des Bürgertums zu halten, die zumindest seit Herbert Marcuses Triebstruktur und Gesellschaft bei den innergesellschaftlichen Frustrationen angeknüpft haben? Rortys Antwort ist an Wittgensteins Behandlung der tiefen, unbestimmten Unruhe modelliert, die alltägliche Überzeugungen durchziehen kann. Erstens: es wäre borniert, diese Fehlanpassung zu übergehen; zweitens: ebenso beschränkt wäre die Mißachtung der Tatsache, daß sie in ganz bestimmten Kontexten aufkommt, in unserem Fall im liberalen Umfeld. Die Schlüsselfrage lautet: Wie umfassend kann an Umständen gezweifelt werden, in die man so weitgehend eingepaßt ist. Das Argument ist nicht, es sei logisch oder transzendental unmöglich, man macht nur sozusagen eine komische Figur dabei. Das Thema ist kontrovers. Ich möchte einige über Rorty hinausgehende Gedanken bringen, die dagegen sprechen, die existenzielle und ideologische Malaise in den reichen Demokratien des Westens zum Angelpunkt der Kritik zu machen. Leo Kreutzer, Literaturprofessor in Hannover, bringt das Verhältnis zwischen Wirtschaft und Menschenrechten in der Aufklärungstradition in Erinnerung.
Der innerbürgerliche Grundwiderspruch, welcher der Entwicklungsdynamik der aus der Aufklärung hervorgegangenen Gesellschaften in Gang gesetzt und gehalten hat, ist von Anfang an der zwischen einem Wirtschafts- und einem Menschenrechtsflügel. Was in der geschichtstheoretischen Dramaturgie von Auf- und Abstieg als bürgerlicher ,Verrat' zu gelten hat, ist das im Verlauf des 19. Jahrhunderts sich stabilisierende Übergewicht des Wirtschaftsflügels. Der aber hatte seit jeher mit dem gesellschaftlichen Umbruch kaum sonderlich mehr verbunden als die Herstellung eines ihm als wünschenswert erscheinenden Investitionsklimas. Auf der andern Seite ist die Menschenrechtsforderung in den Gesellschaften, die sich aus der Aufklärung herleiten, kein bloßes ,Alibi', nie nur ,Hypokrisie' gewesen, und sie ist das dort bis heute nicht. Zwar ist sie allzeit zu schwach gewesen, den Entwicklungsweg dieser Gesellschaften zu bestimmen. Gleichwohl läßt sich behaupten, daß, auf eine höchst paradoxe Weise, sie und nicht das große Geld deren Entwicklungserfolg begründet hat.
Es sind die verfassungsmäßig eingerichteten Institutionen der Kritik und Kontrolle, welche die zum Aufbau eines hochkomplexen, übernationalen Wirtschaftssystems unerläßliche Flexibilität und Disponibilität der Einzelperson garantieren. Die zitierte Passage rückt die Intellektuellen, die z.B. für die Gleichbehandlung von Kurden und Ostdeutschen eintreten, historisch ins rechte Licht. Sie stehen nicht in einem unvergleichlichen Nahverhältnis zu den Tafeln, auf denen die ,,natürlichen, unveräußerlichen und heiligen Rechte des Menschen'' kodifiziert sind, sondern in einer gesamtgesellschaftlich produktiven Komplizenschaft mit dem expansiven Kapital. Ihre Anliegen sind dadurch keineswegs diskreditiert, wohl aber ihres feierlichen Anstrichs beraubt. Die humanistische Theorie, die angesichts des manifesten Zynismus des ,,Wirtschaftsflügels'' vor dem Dilemma steht, entweder ihren Glauben an die angeborene Sittlichkeit des Menschen zu verstärken, oder ihm in trauriger Kapitulation die letzte Ehre zu erweisen, wird durch diese Perspektive um eine Möglichkeit bereichert.
Der Schock des Glaubensverlustes braucht nicht so weit zu gehen, daß man die Funktion aufgibt, die einstmals durch die (para-)religiösen Einstellungen befestigt worden sind. Die Philosophie der Aufklärung ist zwar platt geworden, ihre institutionellen Errungenschaften sind aber nach wie vor unabdingbar und unselbstverständlich. Die Banalität des demokratischen Gerangels kontrastiert der gar nicht banalen Frage, wie eine Gesellschaft einzurichten sei, die ihren nachdenklichen und zupackenden Mitgliedern gleiche Möglichkeiten bietet. Enttäuschung allein bietet keine Gewähr, daß irgendetwas sich ändert. Nur Positionen, die auf der Skala des gesellschaftlich Verständlichen eingenommen werden, versprechen eine Änderung des status quo. Dem Gedankengang Leo Kreutzers folgend kann man sich vor Augen halten, daß die glatte Übertragung europäischer Bürgerlichkeit auf den Rest der Welt an deren Schwierigkeiten vorbeigeht. Bürgerlichkeit konnte nur im Verlauf unserer Geschichte ein kritisches Gegengewicht zu Feudalismus und multinationaler Wirtschaftsmacht werden.
Denn dies sind die Folgen einer ungleichzeitigen Verbürgerlichung: In Gesellschaften jüngeren Ursprungs kommt es nicht mehr zu der Verklammerung widerspruchsvoller Infrastrukturen, welche die Entwicklungsdynamik der aus der europäischen Aufklärung mehr oder weniger unmittelbar hervorgegangenen alten Gesellschaften geprägt hat. Der Lernprozeß des großen Geldes hat das zu verhindern gewußt. Bereits eine Verbürgerlichung im Zuge der lateinamerikanischen Dekolonisierung im 19.Jahrhundert hat sich von dem innerbürgerlichen Kontrahenten ,Kritik und Kontrolle' abgekoppelt, bereits sie hat diesen nicht mehr aufkommen lassen.
Aus diesen Beobachtungen folgen zwei Bestätigungen für Rortys Sache. Erstens: der ahistorische Bezug auf Aufklärungsbegriffe ist nicht bloß naiv, sondern sogar gefährlich, wenn übersehen wird, daß den bekannten Postulaten keine soziale Infrastruktur entspricht. Sie werden zu Floskeln, die man der durch kapitalistisch organisierte Medien erschlossenen Weltöffentlichkeit zuspielt. Zweitens ist es wenig hilfreich, auf diesen Befund mit Verbesserungsideen zu reagieren, die wieder nur auf den Erkenntnisstand der Industrienationen passen. Die Betroffenheit liberaler Europäer und Amerikaner angesichts der globalen Fehlverteilung von Ressourcen spricht sich notgedrungen im Theorierahmen von Menschenwürde, Dialog und interkulturellem Austausch aus. Natürlich ist all das erstrebenswert, aber es wäre ein folgenschwerer Irrtum, zu meinen, diese Vorschläge seien gegenüber den Bedürfnissen der Gesprächspartner neutral. Sie sind selbst imperialistisch, das ist keine Anklage, sondern eine direkte Folge daraus, daß das kritische Bürgertum nicht im Reich des Geistes entstanden, sondern mit Geist reich geworden ist.
Damit ist nicht geleugnet, daß die institutionellen Errungenschaften der reichen Demokratien weltweit Interesse hervorrufen und nachgeahmt werden. Aber der zugrundeliegende Prozeß ist eine äußerst unüberschaubare Anpassungsbewegung relativ unterentwickelter Nationen an ein hegemoniales System. Westlichen Intellektuellen ist zu empfehlen, den Wittgensteinschen, von seiner eigenen Radikalität gebrochenen, Zweifel zur politischen Maxime zu machen: der Fähigkeit, überall Fragezeichen zu setzen, entspricht nicht selbstverständlich eine Fähigkeit, sie in nachvollziehbare Gedankengänge oder gar Befreiungsprozesse umzusetzen. An der Alltagssituation verändert sich umso weniger, je angelegentlicher vergessen wird, daß sie bestimmt, was zulässige Zweifel sind. Im Umkehrschluß: Veränderung beginnt beim Eingeständnis der lokalen Umstände, die nach ihr verlangen. Rorty plädiert für Ethnozentrismus auch der Privilegierten als Grundvoraussetzung weiterer Entwicklung. ,,Sich ethnozentrisch verhalten heißt: das Menschengeschlecht einteilen in diejenigen, vor denen man seine Überzeugungen rechtfertigen muß, und in die übrigen.'' Wieder die Spitze: ein universaler Rechtfertigungszusammenhang ist illusorisch, die Aufgabe besteht darin, zu prüfen, ob das mehr als die Bestätigung des Stammesegoismus sein kann.
Ungleichzeitigkeit ist ein Relationsbegriff, zwei Zustände sind ungleichzeitig zueinander. Darum tritt jemand, der seine Vorurteile zugesteht, eher in einen evolutionären Prozeß ein, als jemand, der den ausgeklügelten Balanceakt vollführt, mit einem Fuß in seiner Kultur und mit dem anderen jenseits aller möglichen Kulturen zu stehen. Technisch-sittlicher Universalismus ist Teil eines Lernprozesses unserer Stammesgeschichte. Als Regel für die Begegnung mit anderen Kulturkreisen ist er - einfacher macht es die Hermeneutik nicht - Blockade wie Bedingung des Weiterlernens. Das Experiment besteht darin, Herrschaft nicht hinauf- oder herunterzuspielen, sondern ihre kontingente Effektivität durchschaubar zu machen. Das ist der Sinn der provokanten Glosse zu Beginn von Contingency, solidarity, and irony, Europa habe sich nicht aus Vernunftgründen entschieden, romantische Poesie, Sozialismus oder Galileis Mechanik anzunehmen. ,,Es war eher so, daß Europa nach und nach verlernte, bestimmte Worte zu gebrauchen und sich nach und nach den Gebrauch anderer angewöhnte.'' Erst wenn das Faktum des Erfolgs des Eurozentrismus von der kritischen Weihe abgekoppelt wird, die ihm gerade die verständigungsbereiten Theoretiker geben, kann sich ein ehrlicher Nord-Süd-Dialog entfalten. ,,Wir müssen darauf pochen, daß man nicht auf jedes Argument in der Terminologie eingehen kann, in der es präsentiert wird.'' Das gilt auch dann, wenn die Betroffenen nach eigener Einsicht allen Grund haben, maximal flexibel zu sein. Mit der Weltbank im Rücken kann man verbal leicht konziliant sein. Ethnozentrismus ist so verstanden der Versuch, hinter der täuschenden Harmonie der Völkerfamilie die Mißklänge durchkommen zu lassen. Reichtum spricht für sich, im Guten wie im Schlechten, bedenklich wird es erst, wenn ihm die Theoretiker die Absolution erteilen. Doch auch die Gegenreaktion findet Rorty überzogen.
Der Marxismus wurde von allen darauffolgenden intellektuellen Bewegungen beneidet, weil es für einen Augenblick so schien, als würde er zeigen, wie Selbst-Entfaltung und soziale Verantwortlichkeit, heidnischer Heroismus und christliche Liebe, die Abgeschiedenheit des Kontemplativen mit der Begeisterung des Revolutionären vereinbar sind. In meiner Darstellung der ironischen Kultur können solche Gegensätze zwar in einem Leben verbunden, nicht aber in einer Theorie vereinigt werden. Wir sollten aufhören, einen Nachfolger für den Marxismus zu suchen, für eine Theorie, die Anständigkeit mit Erhabenheit verbindet.
Rortys Bescheidenheit ist doppelbödig: angesichts großer Aufgaben hilflos beschränkt und angesichts der Hilflosigkeit in großen Dingen realistisch.