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Gegenkulturen. Ein Versuch über die Grenzen der Toleranz

Herbert Hrachovec

Die aktuellste Verwendung des Toleranzbegriffes ist das US-amerikanische ,,zero tolerance``-Prinzip. Die Polizei schreitet beim geringsten Anlaß ein. Diese Entwicklung wirft ein schiefes Licht auf das Ideal des verständnisvollen Umgangs mit Andersartigkeit und Grenzverletzung, wie es im Repertoire der aufgeklärten Bildungselite vorzufinden ist. Die für den Polizeieinsatz vorgebrachte Begründung besagt, daß halbherzige Maßnahmen Verwirrung stiften und letztlich sogar den Gewaltpegel steigern. Wie dem auch sei, eines ist sicher richtig: Toleranz ist eine Kompromißform, ein Zwischending aus Überzeugung und dem Verzicht auf Überzeugung. Franz Wimmers Einleitung in einer IWK-Publikation zum Thema spiegelt die milde Schizophrenie der betreffenden Einstellung.

Abstrakt genommen müßten Menschen, die unterschiedliche Religionen vertreten, einander notwendig tolerieren, weil keiner von ihnen etwas anderes als die innere Überzeugung für die Richtigkeit seiner Glaubenswahl anführen kann $\ldots$ Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Sprache, Ethnie oder Tradition ist für den einzelnen theoretisch natürlich genausowenig ein Argument, andere zu verachten oder deren Anderssein nicht zu tolerieren. 1

Schön ist zu sehen, wo der Hebel angelegt wird. Gesetzt, Herkunft und Überzeugung jeder Person seien prinzipiell relativierbar. Dann fehlt die theoretische Basis des Hegemonieanspruches; Toleranz ist die plausible Konsequenz. Aber diese Voraussetzung ist fragwürdig. Der gewünschte Effekt wird teuer bezahlt. Wenn alles gleich gut ist, fehlt überall ein Schwerpunkt.

Darum fährt Franz Wimmer fort:

Doch geraten wir hier in ein Dilemma: das Eigene, mit dem wir uns identifizieren, können wir nicht leichthin relativieren. Doch kann, um der leidigen Alternative der Intoleranz zu entgehen, der Dialog gesucht und wo immer möglich praktiziert werden.2

Diese Zeilen geben die Halbherzigkeit wieder, mit der sich die Mehrzahl der europäischen Intellektuellen in Wahrheitsfragen eingerichtet hat. Sicher, jede Stellungnahme kommt aus einer ganz spezifischen Position. Das ist schon darum wichtig, weil die Sprecherinnen nicht in der Masse untergehen wollen. Doch andererseits herrscht Toleranz: jede soll sagen können, was sie denkt und keiner kann dem anderen das Recht auf seine Sache absprechen. Leben und leben lassen, ein durchaus angenehmer Zustand. Nur leider: das gilt nur bei gutem Wetter. Das Leben ist auch ein Verdrängungswettkampf und die Personen, die sich nicht an ihre Hausmacht halten, sind oft die Dummen. Die Kritik des Toleranzgestus geht noch tiefer. Die eben heraufbeschworene Dummheit erweist sich, bei näherer Prüfung, in vielen Fällen als die überlegene Einstellung. Offenheit und Lernfähigkeit übertrumpfen Dogmatismus. Und darin kann man erst recht ein Gegenargument gegen die Fürsprecher der Toleranz machen. Nur wenn es mir nicht an den Kragen geht, eröffnet sich die Freiheit, vom Andersartigen zu profitieren. Toleranz ist ein Erfolgsrezept für Besserverdienende, denen eine normverbürgte Leitkultur eher als Hindernis erscheint. Soweit eine grobe, polemisch pointierte Glosse zum Toleranzbegriff. Der Rest des Vortrags untersucht, ob eine prägnante Denkfigur, die Donald Davidson in die Philosophie eingeführt hat, in dieser Kontroverse weiterhilft.




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h.h.
2000-12-29